Naipoki, das verlorene Mädchen

Wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und brütende Hitze das Land überdeckt, sind kaum Tiere in der trockenen Steppe Kenias anzutreffen. Nur ein kleiner Elefant stand ganz alleine unter einer schattenspendenden Akazie. Naipoki, sie wurde von ihrer Herde verlassen. Sie war sehr müde. Ihr kleiner Rüssel hing schlapp nach unten und immer wieder fielen ihr die Augen zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie von Löwen gerissen und gefressen würde.
Naipoki träumte von den Tagen, an denen sie zusammen durchs Land gezogen sind. Sie erinnerte sich daran, wie sie hinter ihrer Mutter herlief und durch lautes Trompeten auf sich aufmerksam machte, an ihre Freunde, mit denen sie im Wasserloch planschte, und an Noah, den riesigen Elefantenbullen, der die Herde beschützte. Vor Sonnenuntergang wanderten sie immer zum Fluss. Eine Gruppe Nilpferde verließ das schützende Nass, um in den angrenzenden Wiesen zu weiden. Warzenschweine liefen mit aufgestelltem Schwanz am Ufer entlang und Paviane tranken, wuschen und neckten sich, beobachtet von fetten Krokodilen. Vorsichtig, mit weit gespreizten Vorderbeinen, tranken einige Gazellen im Seichten. Immer wieder blickten sie auf, um nach Gefahr Ausschau zu halten. Noah war der Erste, der ins Wasser stieg. Erst wenn er sein okay gab, folgten die anderen. Durch lautes Trampeln und Spritzen vertrieben sie die Krokodile, die nur darauf warteten, eines der Kleinen am Rüssel zu packen und ins tiefe Wasser zu ziehen. Elefanten sind gute Schwimmer. An manchen Tagen schwamm Noah mit einer kleinen Gruppe bis ans andere Ufer, um dort nach frischem Gras zu suchen. Wenn es finster wurde, zogen sie sich zum Fressen in den Busch zurück. Geschlafen wurde tagsüber. Sie stellten sich in Gruppen auf und nahmen die Kleinsten in die Mitte. Naipoki schlüpfte immer zwischen die Beine ihrer Mutter und fand so Geborgenheit und Wärme. Aber nun war sie verlassen.
Die Bilder der letzten Tage liefen vor ihren Augen ab. Sie gehörte einer großen Herde an. Über fünfzig Elefanten folgten Noah durch die Steppe, auf der Suche nach frischem Wasser und Futterplätzen. Mara, Naipokis Mutter, ging am Ende der Gruppe, als sich zwei Autos von hinten näherten. Mara erkannte die Gefahr. Sie blieb stehen, drehte sich um und stellte sich den Angreifern entgegen. Mit aufgestellten Ohren und gesenktem Kopf versuchte sie, Naipoki, die sich hinter ihr versteckte, zu beschützen. Schüsse fielen. Es folgte lautes Trompeten und Trampeln von unzähligen Elefantenbeinen. Noah rannte auf die Autos zu. Mit seinen gewaltigen Stoßzähnen stieß er ein Auto um und rollte es vor sich her. Wieder fielen Schüsse. Zwei Männer wurden aus dem Fahrzeug geschleudert. Noah packte einen von ihnen am Bein und schleuderte ihn durch die Luft. Er brüllte und stampfte mit voller Kraft auf dem zweiten herum, bis nichts mehr von ihm überblieb. Das andere Auto raste davon, noch bevor Noah es erreichen konnte.
Nach einiger Zeit beruhigten sich die Elefanten. Langsam sammelte sich die Herde, die zuvor in Panik weit auseinander gelaufen war. In ihrer Mitte lag Mara, von Kugeln der Wilderer getroffen. Immer wieder wollte Naipoki sie zum Aufstehen bewegen. Sie stupste und versuchte, mit ihrem kleinen Rüssel Mara auf die Beine zu helfen. Zwei Tage wachte die Herde über Mara, bevor sie beschloss, wieder weiter zu ziehen. Zum Abschied streichelten noch einmal alle mit dem Rüssel zärtlich über Maras Körper. Naipoki wollte nicht mitkommen. Sie wurde von den anderen gerempelt und gestoßen, immer wieder von Maras Körper weggedrängt. Sie riefen nach ihr und warteten. Doch vergebens, sie wollte ihre Mutter nicht zurücklassen. Zu tief war der Schmerz, zu groß die Trauer.
Tagelang wich Naipoki nicht von Maras Seite. Sie wollte ihre Mutter beschützen. So wie Mara es tat, bevor sie von den Kugeln der Wilderer durchsiebt wurde. Wenn Nachts die Löwen brüllten oder das Heulen der Hyänen zu hören war, stellte sie sich vor Mara, trompetete und stampfte mit den Beinen im Staub. Wild, so wie sie es von Noah gesehen hatte. Sie war zu allem bereit. Keiner sollte sich ihrer Mutter nähern. Aber das Stampfen wurde von Tag zu Tag schwächer, der Rüssel immer schwerer und das Trompeten verkam zu einem leisen Fauchen. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Seit Tagen hatte Naipoki nicht gefressen.
Die Sonne erhob sich tiefrot vom Horizont und eine kühle Brise schien die schwarze Luft der Nacht zu verwehen. Ein weiterer Tag kündigte sich an. Das Hungergefühl wurde von Schwäche abgelöst und Durst von Gleichgültigkeit. In der Ferne waren Autos zu sehen. So wie damals rasten sie direkt auf Naipoki zu. Diesmal war niemand hier, hinter dem sie sich verstecken konnte. Wie sie es von ihrer Mama gesehen hatte, lief sie den Autos entgegen und stellte ihre kleinen Ohren auf. Zum Trompeten war sie zu schwach. Die Wagen stoppten und zwei Männer mit Gewehren stiegen aus. Langsam gingen sie auf Naipoki zu, die sich müde neben Mara niederließ. Sie fiel in einen tiefen und langen Schlaf.
Als sie aufwachte roch es nach frischem Heu und sie lag in einem Bett aus Stroh.“Mädchen“, flüsterte er leise und streichelte ihr über den Kopf. „Du bist im Elefantenwaisenhaus.“

Sie war zu schwach, um aufzustehen. Mit ihrem Rüssel tastete sie an Babas Hand entlang und schlief wieder ein. Baba blieb von nun an Tag und Nacht bei Naipoki. Sie schliefen zusammen in einer Hütte. Er war bei ihr, als sie nachts geplagt von Alpträumen aus dem Schlaf gerissen wurde. Er tröstete und beruhigte sie, wenn sie traurig war. Tagsüber spielten sie zusammen mit den anderen Elefantenkindern auf der Wiese und machten Ausflüge im Park. Dreimal täglich wurde sie gefüttert. Es waren große Milchflaschen, denn Naipoki war hungrig. Immer wieder stupste sie mit ihrem Rüssel und verlangte mehr. Es waren achtzehn Elefantenkinder in der Gruppe. Dada, ein kleiner Elefant mit viel zu kleinem Rüssel, wurde ihr bester Freund. Zusammen spielten sie Fußball. Was Dada mit dem Rüssel nicht zustande brachte, erledigte er mit seinen Beinen. Wenn einer der Älteren Dada bedrängte, war sofort Naipoki zur Stelle und verteidigte ihren Freund.
Naipoki lernte Wasser mit dem Rüssel zu trinken, Zweige vom Baum zu brechen und Blätter zu verspeisen. Baba war Naipokis neue Mutter. Bald war Naipoki wieder stark und gesund. Schnell wuchs sie zum Teenager heran und dachte nicht mehr an das, was vor einiger Zeit geschehen war. Nur in manchen Nächten, wenn die Rufe der Herde von draußen im Camp nicht zu überhören waren, erinnerte sie sich. Dann hatte sie Sehnsucht nach ihrer Familie, draußen im Busch.
Inzwischen konnte sie auch schon alleine schlafen. Baba kam nur mehr am Morgen, um sie rauszulassen, und abends, wenn alle wieder zurück in den Stall gebracht wurden. An diesem Tag kam Baba allerdings nicht alleine. Ein neuer, junger Pfleger begleitete ihn.

„Guten Morgen, heute hab ich dir jemanden mitgebracht“, begrüßte Baba Naipoki. „Das ist Abdul, er wird sich in Zukunft auch um dich kümmern.“

Naipoki wurde nervös. Sie stellte ihre Haare auf und wich zurück.

„Nana, wer wird denn da? Abdul tut dir nichts“, versuchte Baba zu beruhigen und streichelte ihren Rüssel.

„Greif sie an. Bring deine Hand zu ihrem Rüssel, das zeigt Vertrauen.“

Naipoki steckte ihren Rüssel ins Maul und wich zurück.

„Okay, irgendetwas stimmt nicht. Sie war noch nie so verschreckt. Wir lassen es für heute.“

Baba öffnete das Gatter und ließ Naipoki freien Weg, raus in das Gehege.

„Arbeitest du das erste Mal mit Elefanten?“, fragte Baba.

„Nein, ich mein Ja, mit so Kleinen schon.“

Abdul war nervös.

„Sie sind sehr sensibel. Sie können zwar nicht gut sehen, aber dafür haben sie einen ausgezeichneten Geruchssinn. Wenn du ihnen einmal in den Rüssel bläst, werden sie dich für immer in Erinnerung behalten. Ein Leben lang.“

Baba schloss das Gatter hinter Naipoki und sie gingen zum nächsten Stall.
Naipoki war verstört. Sie blieb nach wenigen Metern stehen und hob ihren Rüssel. Sie wollte sicher sein. Sie begann zu zittern. Es war derselbe Geruch wie an jenem Tag. Es war der Geruch, der von dem zweiten Auto ausging. Sie war sich nun sicher. Dada konnte noch so viele Kunststücke vorführen, Naipoki war heute nicht zum Spaßen aufgelegt. Sie stand den ganzen Tag am Gatter und starrte zum Verwaltungsgebäude, in dem sie Baba und Abdul vermutete.

In den folgenden Tagen war es immer das Gleiche. Wenn Abdul den Stall betrat, stampfte und trompetete Naipoki.

„Es ist besser wenn du draußen bleibst“, sagte Baba eines Morgens.

„Du musst ihr zeigen, wer hier der Herr ist. Es kann doch nicht sein, dass die Elefanten entscheiden, von wem sie gefüttert werden.“

Wie meinst du das?“

„Na ich meine, dass wir ihr Rebellieren nicht akzeptieren sollten. Lass mich alleine rein, ich werde das schon regeln“, bot Abdul an.

„Nein, kommt nicht infrage. Sie hat Angst. Ich weiß zwar nicht, warum, aber schau dir das an, sie zittert am ganzen Leib.“

Baba öffnete das Gatter und sie gingen weiter. Abdul warf einen Blick zurück, als wollte er sagen: „Ich komme wieder.“

An diesem Tag verließ Naipoki den Stall erst Stunden später. All ihre Lebensfreude war verschwunden. Sie hatte Angst. Unsagbare Angst. Sie sah die Gewehre, hörte die Schüsse und sah, wie Mara sich niederkniete und zusammensackte. All diese Bilder kamen wieder, wenn sie Abdul roch.
Am nächsten Abend, ihr Futter war bereits gefressen und Baba hatte sich zur Nachtruhe verabschiedet, spürte sie etwas. Es war niemand hier, alles war ruhig, aber irgendetwas schien anders zu sein. Sie hob ihren Rüssel, hob vorsichtig ihr Bein, um zu fühlen, ob sich jemand in der Nähe befand. Elefanten können kleinste Erschütterungen über Kilometer wahrnehmen. Sie hielt ihr Bein wenige Zentimeter über den Boden und bewegte es langsam im Uhrzeigersinn. Sie stoppte die Bewegung. Da war jemand. Nun war es auch zu riechen. Sie hatte Angst. Langsame Schritte, ein Knarren und dann bewegte sich der Riegel vor ihrer Tür. Schritt für Schritt ging sie zurück, bis sie anstand in ihrer Ecke. Leise öffnete sich die Tür und Abdul kam herein.

„Na komm, Naipoki, komm doch“, sagte er mit ruhiger Stimme. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache. Dieses Funkeln ließ nichts Gutes erahnen. Er streckte seine Hand aus um Naipoki zu berühren. Naipokis Herz begann zu rasen, sie wollte ausweichen, aber da war kein Platz, sie stand mit dem Rücken in der Ecke.

„Na komm doch“, fuhr er nun lauter fort und brachte seine linke Hand nach vor, die ein Stück Seil umklammerte. Naipokis Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Sie erinnerte sich, wie Noah tapfer dem Auto entgegen stürmte. All die Bilder waren plötzlich wieder da. Mara, die im Sand kniete und das Blut, das von ihrem Rüssel tropfte. Sie sah, wie Noah auf einem der Männer herumtrampelte. Sie hob ihren Kopf, ein leises Knurren, dann rannte sie los, direkt auf Abdul zu. Sie presste ihn gegen das Gatter. Sie stieg auf seine Brust, als er am Boden lag. Immer wieder, immer fester stampfte sie auf ihn nieder, sie war nicht mehr zu stoppen, bis nichts mehr über war von Abdul.
Am nächsten Morgen, als Baba den Stall betrat, war der Schock groß. Er schlug Alarm und alle liefen im Camp zusammen.

„Wir müssen die Polizei holen“, forderten Stimmen.

Der Tierarzt wurde gerufen und die Polizei sperrte den gesamten Bereich ab.

„Ich kann das nicht verstehen, sie hatte nie jemanden etwas zu leide getan, er hätte nicht in die Box gehen sollen. Vielleicht hatte er sie einfach nur erschreckt“, hörte sie Baba immer wieder sagen. Baba war der Einzige, der Naipoki verteidigte. Auch Abduls Familie war gekommen und forderte, Naipoki zu erschießen. Nur mit Mühe konnten die Polizisten ein gewaltsames Eindringen in das Gehege verhindern.

„Wir müssen die Entscheidung der Behörde abwarten.“

„Sie bleibt eingesperrt, es geht derzeit keine Gefahr von ihr aus“, beruhigte Baba die Polizisten.

„Jedenfalls ist das nicht zufällig passiert. Elefanten wissen genau, was sie tun. Sie können sehr gut einschätzen, wie sie ihre Waffen verwenden und welche Wirkung sie haben“, fuhr der Tierarzt fort.

„Ich werde Ihnen mein Gutachten bis Anfang nächster Woche zukommen lassen.“

Der Arzt verabschiedete sich und die Gruppe löste sich auf. Nun war Naipoki wieder alleine. Baba kam mehrmals täglich zu ihr, um sie zu trösten. Sie konnte nicht verstehen, warum sie nicht mehr zu Dada und ihren Freunden durfte. Sie hörte die Rufe, sie wollte mit ihnen spielen, doch sie war eingesperrt hinter den mächtigen Gitterstäben ihrer Zelle. Mit jedem Tag, der verging, wurde es schlimmer. Sie wollte nicht mehr fressen. Sie stand nur in ihrer Box und bewegte den Kopf monoton von einer Richtung zur anderen. Sosehr Baba auch versuchte, sie mit ihrer Lieblingsspeise zu locken, es blieb erfolglos.
Am siebenten Tag traf der Doktor, begleitet von Polizisten, im Camp ein.

„Hallo Baba, ich habe leider schlechte Nachrichten, wir müssen Naipoki einschläfern. Sie ist eine Gefahr für alle.“

„Das ist doch verrückt. Naipoki ist ein wilder Elefant und jeder, der sich ihr nähert, ist selber schuld“, schrie er den Doktor an.

„Sie werden meinen Elefanten nicht töten, das lass ich nicht zu. Sie werden ihn nicht töten, verstanden“, Tränen liefen über seine Wangen. Der Doktor überreichte Baba eine Mappe mit den Dokumenten.

„Ich werde ihr morgen früh eine letale Injektion verabreichen, sie wird nichts mitbekommen“, versuchte er zu beruhigen.
Baba setzte sich auf die Gitterstäbe in Naipokis Box. Langsam näherte sich Naipoki und schnüffelte vorsichtig an seinen Füßen. Ihr Rüssel glitt zärtlich nach oben bis er, am Kopf angekommen, Babas Tränen fühlte. Naipoki merkte, dass Baba traurig war. Sie wusste nur nicht warum. Sie hatte keine Ahnung, was die gesprochenen Worte bedeuteten.

„Die wollen dich umbringen, Naipoki.“

Er streichelte Ihren Rüssel.

„Die sind verrückt, die wollen dich einfach umbringen“, wiederholte er ungläubig.

„Warum hast du das getan? Ich war immer für dich da. Ich hab mich um dich gekümmert, als du halb tot gefunden und zu uns gebracht wurdest. Ich hab dich gefüttert, gepflegt, wenn du krank warst, und du? Als dank dafür, trampelst du Abdul tot.“

Naipoki lehnte ihren Kopf an seine Schulter und umarmte seinen Nacken mit ihrem Rüssel.

„Ach hör auf, jetzt ist es zu spät. Jetzt kann ich dir nicht mehr helfen“, schluchzte Baba.

Naipoki legte immer wieder ihren Kopf an Babas Brust. Sie wollte ihn trösten, so wie sie getröstet wurde. Inzwischen wurde es finster. Die anderen Elefanten waren schon längst in ihren Boxen und im Camp war Ruhe eingekehrt.

„Ich werde es nicht zulassen.“

Baba stand auf, streichelte Naipoki über die Stirn und ging zur Tür hinaus. Kurz vor Morgengrauen hörte Naipoki Geräusche am Hof. Die Türe öffnete sich und Baba stand vor ihr. Hinter ihm wartete der Elefantentransporter mit offener Ladeklappe. Er ging zur Box, öffnete das Gatter und gab Naipoki einen Klaps.

„Komm Mädchen, wir gehen.“

Gemächlich schritt Naipoki die Rampe hinauf. Baba schloss die Türen, schwang sich ins Führerhaus und fuhr los, weit raus ins Land.
Es war noch dunkel. Nur ein schmaler Streifen am Horizont ließ erkennen, dass die Nacht zu Ende ging. Sie fuhren über staubige Pisten, quer durch die Steppe, viele Kilometer hinaus in die Wildnis. An einem, von Büschen durchzogenen Platz, unweit von der Stelle, an der Naipoki gefunden wurde, hielten sie an. Er öffnete die Laderampe und Naipoki stieg aus dem Truck. Sie hob ihren Rüssel und konnte sofort erkennen, wo sie sich befanden. All die Gerüche waren fest in ihrer Erinnerung verankert. Vorsichtig und unsicher schritt sie der Stelle entgegen, an der sie vor einigen Jahren ihre Mutter verlor. Erinnerungen wurden wach. An Mara, ihre Freunde und an Noah. Es war Trauer und Freude zugleich, die sie empfand, als sie sich weiter und weiter von Baba entfernte. Der riesige Schädel lag immer noch, ausgeblichen von der Sonne, neben der Akazie. Zärtlich tastete sie ihn ab. Naipoki war nun nicht mehr auf die Hilfe von Baba angewiesen. Sie konnte alleine ihr Futter von den Bäumen holen und sogar Wasserquellen aufspüren hatte sie gelernt. Viele Fragen, die sich Baba nun stellte. Wird sie es schaffen, alleine da draußen in der Wildnis? Wird sie genug Futter finden? Wie werden andere Elefanten reagieren, wenn sie Naipoki begegnen. Sie war nie Gefahren ausgesetzt, sie ist im Schutz der Anlage aufgewachsen. Er war sehr traurig darüber, dass Naipoki ihn verlassen musste. Aber er hatte es ihr versprochen. Er würde es nicht zulassen. *Besser so. Sollen sie Naipoki doch suchen, ich werde sie nicht ausliefern und das Jagen von Elefanten ist in Kenia ohnehin verboten.*
Den ganzen Tag wich sie nicht von Babas Seite. Er griff nach Stöcken und warf sie nach Naipoki.

„Geh, Mädchen, geh doch. Geh fort“, rief er. Doch sie konnte nicht verstehen, was plötzlich los war. Sie ging ein paar Schritte, drehte sich um und kam wieder zurück.

„Verdammt, du sollst gehen, hau ab“, schrie Baba aus voller Kehle.

Naipoki bewegte sich nicht. Als es finster wurde, konnte er das Knacken der Äste hören. Naipoki war immer noch in der Nähe. Sie wanderte umher, entfernte sich aber nicht allzu weit. Auch am nächsten Morgen streifte Naipoki immer nur dieselbe Gegend ab. Bald würde sie kein Futter mehr finden, die Blätter waren alle weg. Bald müsste sie aufbrechen, hinaus in die Steppe. Baba beschloss zurück zu fahren. Er konnte nicht länger bleiben. Er wurde sicher schon gesucht. Vielleicht war es auch besser so, vielleicht würde dann Naipoki endlich aufbrechen und diese Gegend verlassen. Ein letztes Mal sah er hin zu der Stelle, an der Naipoki stand und mit ihrem Rüssel im Sand wühlte. Ein letztes Mal sagte er „goodby“, ging zurück zum Truck und stieg ins Führerhaus. Ein Knacken im Busch. Diesmal allerdings hinter ihm. Naipoki stand drüben im Schatten der Akazie. Baba stieg aus, lief hinter den Transporter und sah direkt vor sich einen riesigen Elefantenbullen. Das mächtige Haupt schüttelnd zeigte er Baba an, den Weg freizumachen. Einer seiner Stoßzähne war abgebrochen. Langsam, Schritt für Schritt ging Baba zurück zum Führerhaus, stieg in den Truck und fuhr einige Meter zurück. Gemächlich schritt der Bulle weiter in Richtung Akazie, unter der Naipoki stand und den Schädel ihrer Mutter bewachte. Kurz davor hielt er an. Vorsichtig betasteten sich die beiden Rüssel und streichelten sich gegenseitig. Es war Noah. Nach einer Weile drehte er sich um. Tiefes Knurren war zu hören. Er setzte sich in Bewegung, knurrte erneut und Naipoki folgte ihm. Zurück zu ihrer Herde.

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