Aus die Maus

„Ich bleib bei meiner Meinung, du solltest nicht alleine fliegen. Da investierst du Millionen in ein Flugzeug und diskutierst dann wegen ein paar Tausender für einen Co-Piloten.“

Hannes klopfte dem Taxifahrer auf die Schulter und zeigte zum Fenster raus:

„Hier rein bitte. Zum Flughafen. Hier, GAT.“

„Es geht nicht um ein paar Tausender, Burli. Es geht ums Prinzip. Ich bezahle niemanden, der dann tagelang nur herumsitzt und wartet.“

„Der sitzt nicht herum. Schick ihn einfach mit dem nächsten Flugzeug nach Hause und wenn du ihn wieder brauchst, steht er vor deiner Tür.“

„Du weißt, ich will das nicht und aus die Maus“, würgte Hannes das Gespräch ab.

„Wo bist du überhaupt?“

„Rostock, flieg jetzt nach Hause. Und du? Ist ganz schlechte Verbindung.“

„Orlando“.

„Na dann geh besser ins Bett, ist ja schon mitten in der Nacht bei dir.“

„Nachmittag Hannes, bei mir ist Nachmittag. Bei dir ist es Nacht.“

„Ja, halb Zehn. Ich bin jetzt da. Muss los, ich ruf dich nächste Woche mal an. Da können wir einen Termin ausmachen, bezüglich Checkflug.“

„Alles klar. Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe. Ich weiß, dass du gute Arbeit leistest, aber von einem Termin zum anderen hasten und dann in den Flieger springen, ist definitiv keine gute Idee.“

„Jaja, ich melde mich, servus.“

Hannes zahlte und stieg aus dem Taxi. Im Flughafengebäude wurde er bereits von Valerie und den Kindern erwartet.

„Daddy, Daddy“, rief Nolan und lief direkt in Hanne‘s Arme.

„Nolan, bist du heute wieder mein Copilot?“

Er nahm Nolan auf den Arm und streichelte ihm durchs Haar.

„Wart ihr einkaufen?“, fragte er Jade, die, an der Wand lehnend, nicht einmal zur Begrüßung von ihrem I-Phone ablassen konnte.

„Wir haben Badesachen für Nolan gekauft und für Jade einen tollen Bikini“, antwortete Valerie stellvertretend und zeigte auf die Einkaufstaschen neben sich.

„Na, dann kann der Sommer ja kommen.“

Hannes schulterte Nolan, legte einen Arm um Valerie und sie marschierten gemeinsam zum Flugzeug. Kaum war er einige Schritte gegangen, läutete sein Telefon.

„Ja“

„Hey Hannes, wo bist du?“

„Am Flughafen“

„Wie haben hier ein Problem. Die Server. Das reicht einfach nicht.“

„Was meinst du?“

„Zu viel traffic, zu wenig Kapazität. Die Plattform geht laufend offline.“

„Ich bin morgen wieder in Toulouse, dann kann ich mir das ansehen.“

„Morgen? Die Pakete laufen heute Nacht. Morgen ist zu spät, wir brauchen sofort eine Lösung. Jetzt.“

„Bleib mal ruhig. Ich starte in zwanzig Minuten. Bin gegen Mitternacht bei dir. Schau, dass du bis dahin alles am Laufen halten kannst.“

„Alles klar, dann bis gleich, servus.“

Hannes beendete das Gespräch und hob Nolan von seinen Schultern.

„Rein mit dir, kannst dich gleich vorne hinsetzen und du kannst dein Telefon ausschalten. Telefonieren im Flugzeug verboten“, befahl er Jade.

Er schloss die Türe, kletterte ins Cockpit und schaltete die Avionik ein: „Wird gleich warm“, versuchte er die Fröstelnden zu trösten. Er schloss seine und Nolans Gurte und fragte den Tower um die Freigabe.

„Rostock tower, N4535 request startup.“

„N4535 startup is approved.“

Ein gleichmäßiges „tack tack tack“ im Halbsekundentakt, gefolgt von einem dumpfen „bum“ zeugte vom erfolgreichen Start des Triebwerkes. Es roch nach Kerosin. Nolan saß am rechten Sitz, das Headset am Kopf und beobachtete mit großen Augen die Vorgänge. Bis zum Startpunkt waren es nur wenige Meter.

„N4535, ready for take off.“

„N4535, after departure contact radar on frequency one tow seven decimal tow. Cleared for take off runway 28.“

„Cleared for take off runway 28, N4535“, bestätigte Hannes und schob die Hebel nach vorn.

Ein Rütteln durchdrang die Maschine.

„Take off power is set“, flüsterte Hannes ins Mikrofon.

Nolan hielt sich mit beiden Händen fest am Sitz und beobachtete mit Staunen die rüttelnden und schüttelnden Zeiger der Flugzeuginstrumente vor ihm am Instrumentenpanel.

Noch ein letztes Rucken vom einfahrenden Fahrwerk, dann wurde es ruhiger. Valerie stand auf und kam ins Cockpit.

„Wann landen wir?“

„In einer Stunde. Ist ziemlich viel Gegenwind. Werden wir abgeholt?“

„Schatz, wir haben unser Auto am Flugplatz“, erklärte sie liebevoll und streichelte über seinen Kopf.

„Ah, noch besser. Wir sollten es schaffen, bevor der Flughafen geschlossen wird. Wir haben schon wieder Probleme im Hub. Die Pakete müssen noch heute Nacht raus. Unbedingt. Ich fahr gleich direkt ins Verteilerzentrum. Du kannst das Auto nehmen und mit den Kindern nach Hause fahren, ich bestelle mir ein ‚Taxi. “

„Du sollst dich nicht so aufregen. Denk an deinen Blutdruck.“

„Ach“, antwortete Hannes mit einer abschätzigen Bewegung.

„Bekommt Jade ihr Praktikum?“, fragte er nun wesentlich ruhiger.

„Sieht gut aus, wir müssen am Freitag noch mal hin. Schau, Nolan schläft.“

„Lass ihn vorne sitzen, das ist okay so.“

„Hattest du etwas zu essen?“

„Kaum, ich freu mich schon auf Zuhause. Sobald ich zurück bin heizen wir uns den Kamin ein und machen uns einen gemütlichen Abend.“

„N4535, decend to flight level seven zero“, drang es aus dem Kopfhörer.

„N4535, decend to flight level seven zero“, bestätigte Hannes dem Controller.

„Setz dich lieber wieder hin. Wir sind gleich da.“

Sie gab ihm einen Kuss und ging zurück auf ihren Platz.

„N4535, reduce speed to 180.“

„Wir fahren das Zeug herunter und morgen stehen da neue Server.“ murmelte er vor sich hin.

„zweihundertachzigtausend Pakete mal…“

Nolans Kopf nickte zur Seite. Er war müde, es war ein langer Tag. Er schlief tief, festgeschnallt im Copiloten Sitz.

„mal fünfzehn Cent sind …. zweiundvierzigtausend pro Stunde mal … “

„N4535, i say again. reduce speed to 180.“

„Ahh, reducing. N4535.“

Ruckartig zog er die Hebel zurück bis zum Anschlag, presste den Fahrwerkshebel nach unten und setzte die vollen Landeklappen.

„zweihundertachzigtausend Pakete mal fünfzehn Cent sind …. zweiundvierzigtausend pro Stunde mal … “

„N4535, turn left heading 240 and cleared for ILS approach runway 28“

„Turn left 240 and cleared for approach“ erwiderte Hannes während er den Kurs neu einstellte und den Autopiloten auf Approach schaltete.

„zweihundertachzigtausend Pakete mal fünfzehn Cent mal vierundzwanzig…“

Dieses Rechenspiel ließ ihn einfach nicht mehr los. Das gleichmäßige Brummen der Propeller und das dämmrige Licht im Cockpit vermittelten Sicherheit. Alles wie immer. So wie schon bei unzähligen Anflügen zuvor. Inzwischen waren Sie schon sehr tief, kurz vor der Landepiste. Die Lichter der umliegenden Häuser reflektierten in den Plexiglas Scheiben der Seitenfenster. Auch in der Kabine schliefen inzwischen alle.

„pieeeeeep … brrrrrrrrr“, das Steuerhorn vibrierte und dieses ohrenbetäubende Piepsen mochte nicht verstummen.

„Ahhhh, speed!“

Hannes stieß beide Hebel bis zum Anschlag nach vorne. Seine linke Hand umfasste krampfhaft das Steuerhorn und versuchte mit aller Kraft, dem Wegrollen des Fliegers entgegenzuwirken. Trotz vollen Einschlags gegen die Drehbewegung, ließ sich die Maschine nicht aufrichten und rollte immer weiter um die eigene Achse.

„Heee, was ist da los?“

„We have a proble…“

Die Kreiselinstrumente rotierten und Lichtreflektionen blitzten über die Cockpitscheibe. Ein dumpfer Knall. Überall Rauch. Es war finster. Der Geruch von Kerosin breitete sich aus.

„Nolan!“

Hannes hing kopfüber in den Gurten, die Beine festgeklemmt zwischen den Pedalen.

„Noooolan“, rief er nun lauter.

Es blieb ruhig. Nur das regelmäßige Zischen einer Flüssigkeit auf heißem Metall war zu hören.

„Valerie, Valerieeeeee!“

Aus der Kabine war ein Wimmern zu vernehmen. In immer kürzeren Abständen waren nun diese Zischlaute zu hören. Im Sekundentakt, bis sie abgelöst wurden von einem lauten, dumpfen Knall. Ein Feuerpilz stieg auf. Zur gleichen Zeit heulten die Sirenen. Das Blinken der Blaulichter erhellte das Vorfeld und die Einsatzfahrzeuge rasten zur Absturzstelle.

Aus die Maus.

Nolan überlebte den Absturz, verstarb aber wenige Tage später im Krankenhaus. Hannes, Jade und Valerie verstarben unmittelbar nach der Bergung aus dem Flugzeugwrack.

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Reisen in Zeiten von COVID-19

Die Ereignisse überstürzten sich. Kaum ein Tag ohne schlechte Neuigkeiten. Wenn wir starteten, wussten wir oft nicht, ob eine Landung am Zielflughafen möglich war. Improvisation war gefragt dieser Tage. Auch ich war ständig im Zweifel, ob das was wir machten, richtig sei. Ob es überhaupt Sinn hätte weiter zu fliegen. Sechs von acht Captain waren krankgemeldet. Übrig geblieben sind mein Kollege und ich.
Allen Widrigkeiten zum Trotz flogen wir fast rund um die Uhr. Ich stieg am Morgen ein und fiel nach vierzehn Stunden Flugzeit im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Cockpit. Es war nicht heldenhaft und meistens auch nicht sinnvoll, vielleicht auch dumm. Die Kollegen heim holen war der einzige wirklich berechtigte Flug in den letzten Tagen.

Gleich in der ersten Woche nach Ausbruch der Krankheit in Europa wurde ein Kollege in Georgien von den Behörden positiv auf COVID19 getestet. Er wurde in das örtliche Krankenhaus eingeliefert und wartete nun darauf, nach Hause geflogen zu werden.
Im Krankenwagen und luftdicht verpackt wurde er zum Flugzeug gebracht. Wie ein Außerirdischer stand er vor mir, überglücklich darüber endlich abgeholt zu werden.

Nach der Rückholung aus Batumi (Georgien) flog ich weiter nach Tiblis um einige Schachteln mit Blutproben abzuholen. Zwanzig Kartons waren angemeldet, fünfzig wurden schließlich aus dem LKW ausgeladen. Unmöglich alles im Gepäckraum unterzubringen also begannen die Leute die Boxen in der Kabine zu verstauen. Es herrschte Hektik. Fünf oder sechs Leute rannten mit Schachteln herum, packten hin und her bis endlich alles verstaut war. Mir kam das komisch vor und was ich überhaupt nicht haben konnte, wenn alles so unkoordiniert und schnell gehen musste. Als ich die Kartons genauer inspizierte, bemerkte ich, dass es sich hier um tief gekühlte Ware handelte. Tief gekühlt auf -80 Grad. Deshalb die Eile dachte ich. Das Zeug sollte also nicht auftauen. Aber der einzige Weg diese tiefen Temperaturen ohne externer Energie zu halten war Trockeneis. Dann sah ich auch schon die Label, die auf das Trockeneis hinwiesen.
„Schnell alles wieder raus aus der Kabine“, befahl ich und stellte den ersten Karton zum Ausgang.

Wir errechneten 173 kg Trockeneis in Kartons verpackt. Ein ziemlich unspektakulärer Tod, von dem wir nichts mitbekommen hätten. Denn zuerst hätte uns das CO2 betäubt, wir wären einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht und danach würde der Flieger so lange weiterfliegen, solange das Kerosin reicht. Vermutlich hätten wir es bis über den Atlantik geschafft, bevor das Flugzeug unkontrolliert ins Meer gestürzt wäre.
Ich akzeptierte also die Hälfte der Schachteln und verstaute alles im Gepäckraum, der nicht mit der Kabine verbunden war. Um 02:30 landeten wir in Paris. Keiner erwartete uns. Niemand wusste, wohin mit der Ladung. Wir entluden den Flieger und stellten die Boxen am Vorfeld ab. Die Firma wurde informiert und wir begaben uns ins Hotel. Am nächsten Morgen stand das Zeug noch immer am selben Fleck. Inzwischen aufgetaut und kaputt, wusste niemand wohin damit. Am selben Tag noch bekamen wir einen weiteren Auftrag, um den Rest der Ladung in Tiblis abzuholen und nach Paris zu fliegen. In den Paketen befanden sich Blut und Speichelproben für ein Labor. Dazwischen flogen wir Hunde und Katzen mit und ohne Begleitung. Leute die schnell noch nach Hause wollen bevor alle Länder ihre Grenzen dicht machten oder unsere Crews zum Crewchange. Allmählich aber stand alles still. Am Vortag konnten wir gerade noch aus Moskau raus bevor der Flughafen den Betrieb einstellte. Zwei Kanadier mit Hund, unsere Passagiere, durften dann in Amsterdam nicht einreisen und mussten die Nacht auf Flughafenbänken verbringen.

Überall in Europa brach die Infrastruktur zusammen. Hotels sperren zu und wenn sie noch offen hatten, dann ohne jeglichen Service, ohne Essen und Trinken. Manche Hotels stellen einen Karton mit Frühstück zum Abholen bereit. Taxis waren Mangelware und durften maximal 2 Personen befördern. In anderen Ländern mussten wir für jedes Crew-Mitglied ein eigenes Taxi bestellen. Persönlicher Kontakt war nirgends und mit niemandem erlaubt. Mindestabstand von 2 Meter wurde Pflicht. Ich hatte empfohlen, in Zukunft keine Flugbegleiterinnen mehr mitzunehmen denn das bedeutete nur zusätzliches Risiko.

Wir kämpften ums Überleben der Firma und wussten nicht wie es ausgehen würde. Der Flugverkehr über Europa war völlig zum Erliegen gekommen. Einzige Möglichkeit um etwas zu essen zu bekommen war ein Pizzaservice zwei Straßen weiter, der ins Hotel lieferte.

Am Abend des 31. März landeten wir nach 5 Stunden Flug von Amsterdam kommend in Cotonou (Benin). Der extrem unterkühlte Flieger wirkte wie ein Kondensator in dieser feuchtwarmen Umgebung. Es dauerte nicht lange und wir standen in einem kleinen See aus Kondenswasser. Gut für die Haut, dachte ich und versuchte der Situation etwas Positives abzugewinnen. Jeder vom Bodenpersonal trug eine Schutzmaske. Also suchten auch wir nach der unsrigen und pressten das unförmige Ding über Mund und Nase.
In allen afrikanischen Ländern herrschten verschärfte Einreisebestimmungen wegen der COVID-19-Pandemie. In Cotonou war es besonders streng. Wir wurden angewiesen unsere Hände zu desinfizieren, Handschuhe anziehen und abermals desinfizieren. Auf dem Weg zur Passkontrolle wurden wir erneut aufgefordert unsere Hände zu desinfizieren. Ich verfolgte das Geschehen der Einreiseprozedur durch den grauen Schleier meiner beschlagenen Brille. Das Atmen unter der Maske fiel mir schwer. Der Grenzbeamte musterte unsere Pässe, blätterte in den Seiten vor und zurück und verschwand schließlich mit denselben in einem Raum nebenan. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis er uns letztendlich die Pässe überreichte und wir das Flughafengebäude verlassen durften.

Wir fuhren ins Hotel. Ein IBIS umfunktioniert zu einer Quarantänestation. Ich wurde in ein kleines Zimmer gesteckt und durfte selbiges bis zur Abreise nicht mehr verlassen. Essen und Trinken wurde geliefert. Ohne Auswahlmöglichkeit natürlich.
Es war finster und beengend in diesem kleinen Raum. Das Zimmer lag ebenerdig. Draußen vor dem Fenster patrouillierte ständig ein Wachbeamter. Das ganze Areal war eingezäunt und unterlag strengen Sicherheitsrichtlinien. Der kleine würfelförmige Fernseher am Tisch zeigte nur grauschwarzes Flimmern. Ich gab auf und legte mich aufs Bett. Ich war müde.

Unser Flug weiter nach Burundi und Abis Abeba wurde verschoben. Keine Genehmigungen.
Ich verbrachte den Tag mit lesen, FaceTime und am iPad Nachrichten schauen. Hin und wieder bearbeitete ich Anfragen bezüglich zukünftiger Flüge. So wie zum Beispiel: Ca. 1000 kg Bargeld im Wert von 50 Mio. Euro von Stuttgart nach Accra.
Da will doch noch jemand schnell seine Handkasse retten 🙂 oder sind das schon die Vorboten einer geplanten Währungsreform?, dachte ich.

Zu meinem Kollegen hatte ich keinen direkten Kontakt. Wir kommunizierten nur über Textnachrichten.
Die Essensausgabe gestaltete sich als sehr unzuverlässig. An einem Tag wurde das Abendessen erst kurz vor 22:00 gebracht. Ich sparte mir immer ein Stück Brot von dem jeweiligen Essen, um im Ernstfall etwas länger durchhalten zu können. Vier Stück Brot waren inzwischen in meinem Koffer versteckt. Man weiß ja nie.

Am übernächsten Tag erhielten wir die Genehmigungen für den Flug in den Kongo. Eine Familie mit zwei Kindern von Kinshasa nach Algier. Danach sollten wir leer nach Wien weiter fliegen. Ich hatte genug. Ich benötigte dringend eine Pause. Ein langer Tag stand uns bevor. Ich rechnete mit gesamt 12 Stunden Flugzeit und hoffte, dass nichts dazwischen kommen würde, das unsere Heimreise verzögern könnte. Diese permanente Unplanbarkeit, dieser ständige Wechsel, die ständigen Änderungen zermürbten.

Ich bereitete meine Abreise vor. Duschen, packen und dann raus. Durchs Fenster sah ich schwere Gewitterwolken am Horizont. Das grollen der Donner begleitete meine letzten Aktivitäten in meiner kleinen Zelle.
„Wird wieder mal lustig heute“, murmelte ich vor mich hin.

Die Gewitter standen überall und die Luft war feucht-schwül. Das Leben auf den Straßen in Benin schien ganz normal zu verlaufen. Durch die Seitenscheibe meines Taxis beobachtete ich das Treiben entlang der Straße zum Flughafen. Leute saßen in Gruppen am Straßenrand oder gingen ihrer Arbeit nach. Frauen die Lasten am Kopf trugen, Bauarbeiter die mit einfachen Schaufeln tiefe Schächte aushoben oder händisch Steine und Ziegel schleppten. Alles wie immer, so wie sich Afrika üblicherweise präsentierte.

Erst am Flughafen wurden wir wieder mit Corona konfrontiert. Mehrerer Sicherheitskontrollen. Leute mit Gesichtsmasken, keine Passagiere und keine anderen Flugzeuge außer unserem. Es war schon eigenartig in Augenpaare zu Blicken, ohne jegliche Emotion zu erkennen. Manchmal allerdings vermutete ich ein Lächeln hinter den Masken. Ein Lächeln, dass bis zu den Augen reichte, stark genug um erkannt zu werden.
Mir wurde klar wie wichtig Körpersprache oder Mimik sein konnte.
Die Ausreise gestaltete sich einfach, ebenso wie der Flug von Cotonou nach Kinshasa. Die Gewitter ließen wir bald hinter uns und nach zweieinhalb Stunden Flugzeit landeten wir sicher in der Demokratischen Republik Kongo.
Demokratisch lief in dieser Diktatur allerdings nichts ab. Demonstrationen wurden gewaltsam beendet, manchmal sogar durch Schießen mit scharfer Munition und das Land befand sich obendrein in einem Kriegszustand mit Bürgermilizen. Zudem war da auch noch Ebola, Malaria und Gelbfieber verbreitet. Denge- oder Lassafieber nicht ausgeschlossen. Viele Feinde also die hier auf uns warteten.
So war auch der Empfang eher verhalten. Ein Uniformierter, wie sich später herausstellte ein Beamter der Einreisebehörde, redete unentwegt auf mich ein. Leider in Französisch und somit für mich unverständlich. Auch andere Personen unterschiedlichen Standes, die sich allmählich an der Diskussion beteiligten, sprachen nur Französisch. Sie bemühten sich, formten ganz langsam und deutlich jedes Wort mit den Lippen. Dennoch waren Rückschlüsse auf den Inhalt des gesprochenen für mich unmöglich.

Der Beamte wurde immer lauter und scheinbar ungeduldiger. Als ich schließlich das Telefon nahm und in meiner Firma anrief, um nach einem Dolmetscher zu fragen, winkte er energisch ab und verschwand.

Problem gelöst, dachte ich. Nun wartete die nächste Aufgabe. Medizinischer Check. Zwei etwas pummelige, in Weiß gekleidete Krankenschwestern mit schief sitzendem Mundschutz hantierten vor meiner Nase mit einem Infrarot Thermometer. Irgendwie schien jedoch keine zuverlässige Messung zustande zu kommen. Bei 35 Grad Außentemperatur lieferte meine sonnenbeschienene Stirn kaum Werte unter 38.
Pflichtbewusst notierten sie zuerst 38 Grad in ihr Formular, strichen den Wert jedoch gleich wieder und notierten stattdessen 36. Danach zogen sie zufrieden ab. Überwacht wurde die Prozedur von zwei Beamten der Gesundheitspolizei, die sich nach erfolgter Gesundheitsüberprüfung ebenfalls auf den Rückweg machten.

Wir bekamen Kerosin, das war für mich das allerwichtigste. Von den Passagieren keine Spur. Kurz darauf wurde ich telefonisch darüber informiert, dass es Probleme bei der Ausreise unserer Gäste gäbe. Der Einwanderungsbehörde lag keine Genehmigung vor und es würde noch mindestens zwei Stunden dauern bis die selbige erstellt werden könnte, wurde mir von meinem Büro mitgeteilt.
Zwei Stunden warten waren ziemlich lange. Vor allem in Anbetracht unserer maximal erlaubten Duty time. Wir würden dieses Limit mit Sicherheit überschreiten. Aber es gab keine Alternative und so warteten wir geduldig im Flugzeug.

Nach einiger Zeit wurde es immer wärmer in der Kabine. Die Klimaanlage schaffte es kaum adäquate Temperaturen zu halten. APU auf volle Leistung. Dennoch, kaum Besserung. Außerdem war weit und breit niemand in Sicht, der uns mit dem bestellten Catering beliefern sollte. Wir hatten seit dem Vortag nichts mehr gegessen und Trinken wurde auch langsam knapp. Mir fielen meine Brötchen ein, die ich Tag für Tag in meinem Koffer hortete. Eine Willkommene Rettung dachte ich und knabberte wie ein Hase im Stall an dem alten Brot.
Mir stand nur noch eine kleine Flasche Wasser zur Verfügung. Die anderen Flaschen waren für unsere Passagiere reserviert. Ab nun also nur Mund befeuchten. Auch gut, dachte ich im Hinblick auf den langen Flug, der uns bevorstand. Damit könnte ein Toilettengang im Flugzeug vermieden werden.

Ich fühlte mich matt und müde und versuchte etwas zu schlafen. Kaum die Schuhe ausgezogen und hingelegt wurde ich schon wieder gerufen. Zwei Leute von der Handligsfirma standen vor der Türe und versuchten klar zu machen, dass die Passagiere nicht ausreisen dürften. Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden. „Go go“, riefen sie unterstützt durch heftiges winken mit den Armen.
Mir war klar, dass wir hier nicht ewig bleiben konnten. Auch die Zeit und der inzwischen verbrauchte Sprit durch unser Hilfstriebwerk, ließen ein längeres Warten kaum zu. Anderseits standen da vier Personen mit Hund in der Abflughalle, die hunderttausend Euro dafür bezahlt haben, um nach Hause geflogen zu werden.
Ich musste eine Entscheidung treffen und das ganz schnell. Ich hatte kein gutes Gefühl im Bauch. Was, wenn die mich anlügen? Also rief ich wieder im Büro an und erkundigte mich nach dem Verbleib der Kunden.
Die Passagiere sind am Weg nach draußen, bitte noch etwas warten war die Antwort. Dennoch, mir gefiel das Ganze nicht. Mein Bauchgefühl widersprach dem Wunsch weiter zuzuwarten.
Früher, als ich noch Flugschüler unterrichtete, erzählte ich meinen Schülern.
„Wenn ihr am Morgen aufwacht und ein flaues Gefühl im Magen habt, dann lasst es sein. Wir wissen nicht, warum aber oft sind die Entscheidungen, die aus dem Bauch kommen die richtigen. Es ist sozusagen ein sechster Sinn und auf den sollten wir hören“.
Die zwanzig Minuten waren inzwischen schon lange vergangen, die Männer vor dem Flugzeug immer noch kopfschüttelnd, wenn ich mit Händen und Füßen zu erklären versuchte, dass ich endlich die Passagiere bräuchte. Der Sprit war nun unter der geplanten Menge und die Vorstellung im Kongo sitzenzubleiben bewegten mich schließlich zu einer brutalen Entscheidung.
Wir hauen ab.
Mein Kopilot eilte ins Cockpit, erfragte die Startfreigabe für die Triebwerke und ich schloss die Türen. Wir rollten gerade zur Startbahn als abermals das Telefon klingelte. Unser Geschäftsführer war am Apparat. „Bitte warten, die Pax sind am Weg nach draußen. Gib mir bitte noch 20 Minuten“.
Niemals würde ich das ablehnen. Was sind schon 20 Minuten. Immerhin geht es ja um viel Geld und außerdem ist hier eine Familie, die nach Hause möchte. Und der Hund.

„Wenn du dich einmal dazu entschlossen hast umzukehren, wenn du entschlossen hast abzubrechen oder auf einen Ausweichflughafen zu landen, dann bleibe bei deiner Entscheidung“ die Gedanken jagten durch meinen Kopf. Ebenfalls Weisheiten die ich immer wieder unterrichtete.

„Tut mir leid, wir starten“, war meine Antwort.

Die nächsten Minuten waren die Hölle. Immer noch keine Startfreigabe, obwohl wir inzwischen schon auf der Piste standen. Wenn wir nun zurückmüssen wäre alles vorbei, wir würden es nicht mehr nach Hause schaffen.

Kein Sprit, extrem über der erlaubten Dienstzeit und die Überfluggenehmigungen wären auch abgelaufen, weil einmal aktiviert. Einfach Power setzten und weg? Ich würde nicht weit kommen. Spätestens an der Grenze zu Brazzaville wäre Schluss. Die würden uns keinen Überflug genehmigen. Es gäbe Probleme mit der Telefonleitung, die nächste Kontrollstelle sei nicht erreichbar wurde uns gesagt und der Sprit verbrannte ungenützt in den Triebwerken. Nun würde es nicht mehr lange dauern und wir müssten ohnehin abbrechen. Woanders zu landen als in Tunis wäre unmöglich. Auch die geforderten zwanzig Minuten waren nun fast um als endlich der befreiende Funkspruch kam.

„Fortune 2507 you’re cleared for takeoff“

Die Freigabe war noch nicht fertig ausgesprochen, schob ich die Power Leveler auf vollen Anschlag, ließ die Bremsen los und der Schub unserer Triebwerke presste uns mit voller Wucht in die Sitze. So musste sich ein Raketenstart anfühlen, dachte ich. Ab die Post.

Mit zunehmender Höhe wurde es kühler und ich fühlte mich immer schlechter. Mit letzter Anstrengung zwang ich mich aus der beengten Postion im Cockpit und schleppte mich zurück in die Kabine. Mein ganzer Körper zitterte und kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Mir war speiübel.

Ich weiß nicht wie lange ich dort lag als ich eine kreischende Stimme aus dem Kabinenlautsprecher vernahm.
„Komm bitte nach vor, das sind jede Menge Gewitter vor uns“.

Es war eine gewaltige Front. Unsere aktuelle Höhe von über 13 Km reichte bei weitem nicht aus, um die Gewitter zu überfliegen. Und sie war verdammt noch mal lang. Eine geschätzte Breite von hundert Meilen. Unmöglich auszuweichen, dafür war kein Sprit vorhanden. Also rauf. Bis über 15 km Höhe ist unser Flugzeug zugelassen, Gewitter dieser Dimension zu überfliegen ist allerdings nicht anzuraten. Zu dünn die Luft, zu hoch die Gefahr eines Strömungsabrisses aufgrund von Abwinden oder Turbulenzen.
Ich navigierte nun anhand von meinem Wetterradar, das mir die gefährlichen Zonen der Gewitter-Zellen anzeigte. Zuerst links vorbei, dann wieder rechts und schließlich zwischen durch. Irgendwann landeten wir in einem der weit auslaufenden Gewitter-Schirme und waren somit akuter Vereisung ausgesetzt. Kaum hatte mein Kollege „Anti ice“ eingeschaltet, verloren wir rapide Leistung und Höhe. Der Flieger war noch zu schwer für solche Manöver. Trotz heftiger Gegenwehr und voller Leistung der Triebwerke wurden wir von Abwinden nach unten gezogen. Ich wechselte den Kurs und mein Kollege schaltete die Enteisung aus. Dennoch sackten wir weiter ab, immer tiefer in die tropischen Gewitter. Ich sah schon die Affen auf den Bäumen sitzen wie sie genüsslich mit ihren Fliegern unsere Überreste von den Ästen kratzten und sich anschließend die Finger leckten.
Eine Entscheidung bedingte die Andere. Irgendwann jedoch wurde das Geäst immer dünner, die Möglichkeiten immer weniger.

Kleine Affen die auf Bäume flüchten achten darauf, ob der Ast ihr Gewicht noch trägt. Wenn nicht, springen sie zum nächsten Baum.

Ich sah die Bäume zwar nicht, hoffte aber darauf. Und genau in dem Moment drehte sich das Blatt. Die Winde, die uns eben noch nach unten zogen, beförderten uns nun mit unbeschreiblicher Energie wieder nach oben. Schließlich reichte es, um mit voller Geschwindigkeit dem Unheil zu entfliehen. Wenige Minuten danach, tiefschwarzer Himmel behangen mit Milliarden von Sternen. Völlige Ruhe. So als würde der Film angehalten, um schnell mal noch ein Bier aus der Kühlung zu holen oder neuen Nachschub an Chips zu organisieren. Einfach Surreal, die Affen müssen warten, dachte ich und legte mich wieder schlafen.

Später gelang es mir, nach weitere zwei Stunden schlaf und einer Dose Cola meinen Kreislauf so weit zu stabilisieren, um eine Landung in Tunis durchzuführen. Den letzten Leg nach Wien verbrachte ich ebenfalls zum größten Teil mit Schlaf.

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Der Fliegenfischer 

„Ich bin Fischer“, sagte der Herr mit dem großen Krempenhut. „Fliegenfischer“, setzte er nach, während er sich bückte, um dem kleinen Jungen näher zu sein. Die großen, schweren Stiefel glichen Säulen und in seiner, am Bund abgeschnürten Wathose sah er aus wie eine riesige Bratwurst.

„Ja ja“, sagte der Fischer, wischte sich den Schweiß von der Stirn und hockte sich neben den kleinen Jungen. Mit hochrotem Kopf und breitem Grinsen zeigte er ihm seine Angel. 

„Schau“, sagte er, während seine dicken Finger eine kleine Metalldose aus dem Beutel hervorholten. Er öffnete sie und versuchte eines der winzigen Haarbüschel zu greifen, die sich eingepfercht darin versteckten.

„Das ist eine Fliege, hehe.“ 

Zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt, hielt er das mit Fasanfedern umwickelte Teil, an dessen Ende eine goldene Kugel hervorblitze, nach oben. Die zittrige Hand ließ das Unikat so lebendig erscheinen, als wollte es jeden Augenblick abheben und wegfliegen. 

„Das werden wir nun an die Schnur binden und dann …“, erfolglos versuchte er, das fast unsichtbare Ende einer Nylonschnur durch die Öse zu fädeln, steckte ungeduldig das Büschel Fasan zwischen seine Zähne, um mit der frei gewordenen Hand nach seiner Brille zu suchen, die er bald darauf mit einer Schräglage wie Titanic vor dem Untergang auf seiner Nase platzierte. 

„Ha, siehst du“, sagte er, immer noch seine Fliege zwischen den Zähnen festhaltend. 

Nun hatte er mehr Kontrolle über die Schnur und nach wenigen Versuchen war sie durch. Flink knotete er und steckte ein Ende zwischen seine Zähne, speichelte es ein und zog an dem anderen mit seiner Hand. Danach biss er das überlange Stück ab und spuckte es wieder aus, als hätte er eine Spinne verschluckt. Schweiß tropfte von seiner Stirn wie das Wasser vom Trevi-Brunnen in Rom. 

„So, fertig, hehe.“ 

Er hob die Hand und hielt das Meisterwerk gegen die Sonne. 

„Fische fressen Fliegen und ich esse Fische“, erklärte er und zeigte lachend auf den Haken, der kaum zu erkennen, aus dem Haarbüschel ragte. 

Mit einem kräftigen Ruck versuchte er, aus seiner Hocke hochzukommen. Doch erst das Abstützen mit den Händen am Felsen ermöglichte ihm, seine Füße zu entlasten und für den aufrechten Gang in Stellung zu bringen. Breitbeinig stapfte er Richtung Ufer, in der rechten Hand die Rute und in der linken hielt er sein Federinsekt. Vorsichtig stellte er sein linkes Bein ins seichte Wasser, drehte sich kurz um und lachte dem Jungen zu. Mit ruckartigen Bewegungen begann er, die senkrecht stehende Angelrute zu schwingen. Ein weiter Wurf nach vorne, zurück und wieder nach vorne, ließ die Schnur mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Luft sausen, gefolgt von der Fliege, die danach einige Meter vor ihm am Wasser zu liegen kam. Da tanzte es nun, sein Imitat, und trieb langsam in der Strömung ab. Schritt für Schritt folgte er, zog kurz an der Leine und watete weiter, immer weiter, zog an der Schnur, wirbelte die Fliege durch die Luft und ging wieder weiter. Die rechte Hand nach vorne gestreckt, mit der linken an der Schnur ziehend, entfernte er sich langsam vom Flussrand. 

Die Sonne stand tief und ließ das Tänzeln der kleinen Wellen in einem prächtigen Farbenspiel erscheinen. Eine leichte, kühle Brise deutete das bevorstehende Ende des Tages an. Bis zu den Knien stand der Herr nun schon im Wasser. Die Wellen drückten gegen seine Beine, die sich wie Pfeiler einer Brücke der Strömung entgegenstemmten. Heftig schwang er den langen Stab und steppte, dem Druck langsam nachgebend, nach vor. Der Pegel stieg, der Druck wurde stärker, seine Schritte schneller, immer weiter, immer tiefer, bis er, der Wasserkraft nicht mehr standhaltend, nach vorne fiel und in der Strömung kurz verschwand. Kopf und Arme unter Wasser, die Beine wie zwei aufgeblasene Ballone steil nach oben gestreckt, trieb er ab. Dahinter hüpfte spielerisch sein Hut auf den Wellen, gefolgt von der Angelrute. 
Die Blätter der Birken tanzten im Wind und das Abendrot überzog das Land mit seiner vollen Farbenpracht. Das immer lauter werdenden Tosen des Wassers übertönte das Singen der Vögel und Quaken der Wildenten. Es war kalt. Der Junge stand auf, klopfte die Hosen ab und nahm seine Jacke, die über dem Schild „Achtung Wehranlage“ hing. Er bewunderte die beiden aufgemalten Totenköpfe am Anfang und am Ende der Aufschrift, zog sich die Jacke an und ging nach Hause.

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Naipoki, das verlorene Mädchen

Wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und brütende Hitze das Land überdeckt, sind kaum Tiere in der trockenen Steppe Kenias anzutreffen. Nur ein kleiner Elefant stand ganz alleine unter einer schattenspendenden Akazie. Naipoki, sie wurde von ihrer Herde verlassen. Sie war sehr müde. Ihr kleiner Rüssel hing schlapp nach unten und immer wieder fielen ihr die Augen zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie von Löwen gerissen und gefressen würde.
Naipoki träumte von den Tagen, an denen sie zusammen durchs Land gezogen sind. Sie erinnerte sich daran, wie sie hinter ihrer Mutter herlief und durch lautes Trompeten auf sich aufmerksam machte, an ihre Freunde, mit denen sie im Wasserloch planschte, und an Noah, den riesigen Elefantenbullen, der die Herde beschützte. Vor Sonnenuntergang wanderten sie immer zum Fluss. Eine Gruppe Nilpferde verließ das schützende Nass, um in den angrenzenden Wiesen zu weiden. Warzenschweine liefen mit aufgestelltem Schwanz am Ufer entlang und Paviane tranken, wuschen und neckten sich, beobachtet von fetten Krokodilen. Vorsichtig, mit weit gespreizten Vorderbeinen, tranken einige Gazellen im Seichten. Immer wieder blickten sie auf, um nach Gefahr Ausschau zu halten. Noah war der Erste, der ins Wasser stieg. Erst wenn er sein okay gab, folgten die anderen. Durch lautes Trampeln und Spritzen vertrieben sie die Krokodile, die nur darauf warteten, eines der Kleinen am Rüssel zu packen und ins tiefe Wasser zu ziehen. Elefanten sind gute Schwimmer. An manchen Tagen schwamm Noah mit einer kleinen Gruppe bis ans andere Ufer, um dort nach frischem Gras zu suchen. Wenn es finster wurde, zogen sie sich zum Fressen in den Busch zurück. Geschlafen wurde tagsüber. Sie stellten sich in Gruppen auf und nahmen die Kleinsten in die Mitte. Naipoki schlüpfte immer zwischen die Beine ihrer Mutter und fand so Geborgenheit und Wärme. Aber nun war sie verlassen.
Die Bilder der letzten Tage liefen vor ihren Augen ab. Sie gehörte einer großen Herde an. Über fünfzig Elefanten folgten Noah durch die Steppe, auf der Suche nach frischem Wasser und Futterplätzen. Mara, Naipokis Mutter, ging am Ende der Gruppe, als sich zwei Autos von hinten näherten. Mara erkannte die Gefahr. Sie blieb stehen, drehte sich um und stellte sich den Angreifern entgegen. Mit aufgestellten Ohren und gesenktem Kopf versuchte sie, Naipoki, die sich hinter ihr versteckte, zu beschützen. Schüsse fielen. Es folgte lautes Trompeten und Trampeln von unzähligen Elefantenbeinen. Noah rannte auf die Autos zu. Mit seinen gewaltigen Stoßzähnen stieß er ein Auto um und rollte es vor sich her. Wieder fielen Schüsse. Zwei Männer wurden aus dem Fahrzeug geschleudert. Noah packte einen von ihnen am Bein und schleuderte ihn durch die Luft. Er brüllte und stampfte mit voller Kraft auf dem zweiten herum, bis nichts mehr von ihm überblieb. Das andere Auto raste davon, noch bevor Noah es erreichen konnte.
Nach einiger Zeit beruhigten sich die Elefanten. Langsam sammelte sich die Herde, die zuvor in Panik weit auseinander gelaufen war. In ihrer Mitte lag Mara, von Kugeln der Wilderer getroffen. Immer wieder wollte Naipoki sie zum Aufstehen bewegen. Sie stupste und versuchte, mit ihrem kleinen Rüssel Mara auf die Beine zu helfen. Zwei Tage wachte die Herde über Mara, bevor sie beschloss, wieder weiter zu ziehen. Zum Abschied streichelten noch einmal alle mit dem Rüssel zärtlich über Maras Körper. Naipoki wollte nicht mitkommen. Sie wurde von den anderen gerempelt und gestoßen, immer wieder von Maras Körper weggedrängt. Sie riefen nach ihr und warteten. Doch vergebens, sie wollte ihre Mutter nicht zurücklassen. Zu tief war der Schmerz, zu groß die Trauer.
Tagelang wich Naipoki nicht von Maras Seite. Sie wollte ihre Mutter beschützen. So wie Mara es tat, bevor sie von den Kugeln der Wilderer durchsiebt wurde. Wenn Nachts die Löwen brüllten oder das Heulen der Hyänen zu hören war, stellte sie sich vor Mara, trompetete und stampfte mit den Beinen im Staub. Wild, so wie sie es von Noah gesehen hatte. Sie war zu allem bereit. Keiner sollte sich ihrer Mutter nähern. Aber das Stampfen wurde von Tag zu Tag schwächer, der Rüssel immer schwerer und das Trompeten verkam zu einem leisen Fauchen. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Seit Tagen hatte Naipoki nicht gefressen.
Die Sonne erhob sich tiefrot vom Horizont und eine kühle Brise schien die schwarze Luft der Nacht zu verwehen. Ein weiterer Tag kündigte sich an. Das Hungergefühl wurde von Schwäche abgelöst und Durst von Gleichgültigkeit. In der Ferne waren Autos zu sehen. So wie damals rasten sie direkt auf Naipoki zu. Diesmal war niemand hier, hinter dem sie sich verstecken konnte. Wie sie es von ihrer Mama gesehen hatte, lief sie den Autos entgegen und stellte ihre kleinen Ohren auf. Zum Trompeten war sie zu schwach. Die Wagen stoppten und zwei Männer mit Gewehren stiegen aus. Langsam gingen sie auf Naipoki zu, die sich müde neben Mara niederließ. Sie fiel in einen tiefen und langen Schlaf.
Als sie aufwachte roch es nach frischem Heu und sie lag in einem Bett aus Stroh.“Mädchen“, flüsterte er leise und streichelte ihr über den Kopf. „Du bist im Elefantenwaisenhaus.“

Sie war zu schwach, um aufzustehen. Mit ihrem Rüssel tastete sie an Babas Hand entlang und schlief wieder ein. Baba blieb von nun an Tag und Nacht bei Naipoki. Sie schliefen zusammen in einer Hütte. Er war bei ihr, als sie nachts geplagt von Alpträumen aus dem Schlaf gerissen wurde. Er tröstete und beruhigte sie, wenn sie traurig war. Tagsüber spielten sie zusammen mit den anderen Elefantenkindern auf der Wiese und machten Ausflüge im Park. Dreimal täglich wurde sie gefüttert. Es waren große Milchflaschen, denn Naipoki war hungrig. Immer wieder stupste sie mit ihrem Rüssel und verlangte mehr. Es waren achtzehn Elefantenkinder in der Gruppe. Dada, ein kleiner Elefant mit viel zu kleinem Rüssel, wurde ihr bester Freund. Zusammen spielten sie Fußball. Was Dada mit dem Rüssel nicht zustande brachte, erledigte er mit seinen Beinen. Wenn einer der Älteren Dada bedrängte, war sofort Naipoki zur Stelle und verteidigte ihren Freund.
Naipoki lernte Wasser mit dem Rüssel zu trinken, Zweige vom Baum zu brechen und Blätter zu verspeisen. Baba war Naipokis neue Mutter. Bald war Naipoki wieder stark und gesund. Schnell wuchs sie zum Teenager heran und dachte nicht mehr an das, was vor einiger Zeit geschehen war. Nur in manchen Nächten, wenn die Rufe der Herde von draußen im Camp nicht zu überhören waren, erinnerte sie sich. Dann hatte sie Sehnsucht nach ihrer Familie, draußen im Busch.
Inzwischen konnte sie auch schon alleine schlafen. Baba kam nur mehr am Morgen, um sie rauszulassen, und abends, wenn alle wieder zurück in den Stall gebracht wurden. An diesem Tag kam Baba allerdings nicht alleine. Ein neuer, junger Pfleger begleitete ihn.

„Guten Morgen, heute hab ich dir jemanden mitgebracht“, begrüßte Baba Naipoki. „Das ist Abdul, er wird sich in Zukunft auch um dich kümmern.“

Naipoki wurde nervös. Sie stellte ihre Haare auf und wich zurück.

„Nana, wer wird denn da? Abdul tut dir nichts“, versuchte Baba zu beruhigen und streichelte ihren Rüssel.

„Greif sie an. Bring deine Hand zu ihrem Rüssel, das zeigt Vertrauen.“

Naipoki steckte ihren Rüssel ins Maul und wich zurück.

„Okay, irgendetwas stimmt nicht. Sie war noch nie so verschreckt. Wir lassen es für heute.“

Baba öffnete das Gatter und ließ Naipoki freien Weg, raus in das Gehege.

„Arbeitest du das erste Mal mit Elefanten?“, fragte Baba.

„Nein, ich mein Ja, mit so Kleinen schon.“

Abdul war nervös.

„Sie sind sehr sensibel. Sie können zwar nicht gut sehen, aber dafür haben sie einen ausgezeichneten Geruchssinn. Wenn du ihnen einmal in den Rüssel bläst, werden sie dich für immer in Erinnerung behalten. Ein Leben lang.“

Baba schloss das Gatter hinter Naipoki und sie gingen zum nächsten Stall.
Naipoki war verstört. Sie blieb nach wenigen Metern stehen und hob ihren Rüssel. Sie wollte sicher sein. Sie begann zu zittern. Es war derselbe Geruch wie an jenem Tag. Es war der Geruch, der von dem zweiten Auto ausging. Sie war sich nun sicher. Dada konnte noch so viele Kunststücke vorführen, Naipoki war heute nicht zum Spaßen aufgelegt. Sie stand den ganzen Tag am Gatter und starrte zum Verwaltungsgebäude, in dem sie Baba und Abdul vermutete.

In den folgenden Tagen war es immer das Gleiche. Wenn Abdul den Stall betrat, stampfte und trompetete Naipoki.

„Es ist besser wenn du draußen bleibst“, sagte Baba eines Morgens.

„Du musst ihr zeigen, wer hier der Herr ist. Es kann doch nicht sein, dass die Elefanten entscheiden, von wem sie gefüttert werden.“

Wie meinst du das?“

„Na ich meine, dass wir ihr Rebellieren nicht akzeptieren sollten. Lass mich alleine rein, ich werde das schon regeln“, bot Abdul an.

„Nein, kommt nicht infrage. Sie hat Angst. Ich weiß zwar nicht, warum, aber schau dir das an, sie zittert am ganzen Leib.“

Baba öffnete das Gatter und sie gingen weiter. Abdul warf einen Blick zurück, als wollte er sagen: „Ich komme wieder.“

An diesem Tag verließ Naipoki den Stall erst Stunden später. All ihre Lebensfreude war verschwunden. Sie hatte Angst. Unsagbare Angst. Sie sah die Gewehre, hörte die Schüsse und sah, wie Mara sich niederkniete und zusammensackte. All diese Bilder kamen wieder, wenn sie Abdul roch.
Am nächsten Abend, ihr Futter war bereits gefressen und Baba hatte sich zur Nachtruhe verabschiedet, spürte sie etwas. Es war niemand hier, alles war ruhig, aber irgendetwas schien anders zu sein. Sie hob ihren Rüssel, hob vorsichtig ihr Bein, um zu fühlen, ob sich jemand in der Nähe befand. Elefanten können kleinste Erschütterungen über Kilometer wahrnehmen. Sie hielt ihr Bein wenige Zentimeter über den Boden und bewegte es langsam im Uhrzeigersinn. Sie stoppte die Bewegung. Da war jemand. Nun war es auch zu riechen. Sie hatte Angst. Langsame Schritte, ein Knarren und dann bewegte sich der Riegel vor ihrer Tür. Schritt für Schritt ging sie zurück, bis sie anstand in ihrer Ecke. Leise öffnete sich die Tür und Abdul kam herein.

„Na komm, Naipoki, komm doch“, sagte er mit ruhiger Stimme. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache. Dieses Funkeln ließ nichts Gutes erahnen. Er streckte seine Hand aus um Naipoki zu berühren. Naipokis Herz begann zu rasen, sie wollte ausweichen, aber da war kein Platz, sie stand mit dem Rücken in der Ecke.

„Na komm doch“, fuhr er nun lauter fort und brachte seine linke Hand nach vor, die ein Stück Seil umklammerte. Naipokis Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Sie erinnerte sich, wie Noah tapfer dem Auto entgegen stürmte. All die Bilder waren plötzlich wieder da. Mara, die im Sand kniete und das Blut, das von ihrem Rüssel tropfte. Sie sah, wie Noah auf einem der Männer herumtrampelte. Sie hob ihren Kopf, ein leises Knurren, dann rannte sie los, direkt auf Abdul zu. Sie presste ihn gegen das Gatter. Sie stieg auf seine Brust, als er am Boden lag. Immer wieder, immer fester stampfte sie auf ihn nieder, sie war nicht mehr zu stoppen, bis nichts mehr über war von Abdul.
Am nächsten Morgen, als Baba den Stall betrat, war der Schock groß. Er schlug Alarm und alle liefen im Camp zusammen.

„Wir müssen die Polizei holen“, forderten Stimmen.

Der Tierarzt wurde gerufen und die Polizei sperrte den gesamten Bereich ab.

„Ich kann das nicht verstehen, sie hatte nie jemanden etwas zu leide getan, er hätte nicht in die Box gehen sollen. Vielleicht hatte er sie einfach nur erschreckt“, hörte sie Baba immer wieder sagen. Baba war der Einzige, der Naipoki verteidigte. Auch Abduls Familie war gekommen und forderte, Naipoki zu erschießen. Nur mit Mühe konnten die Polizisten ein gewaltsames Eindringen in das Gehege verhindern.

„Wir müssen die Entscheidung der Behörde abwarten.“

„Sie bleibt eingesperrt, es geht derzeit keine Gefahr von ihr aus“, beruhigte Baba die Polizisten.

„Jedenfalls ist das nicht zufällig passiert. Elefanten wissen genau, was sie tun. Sie können sehr gut einschätzen, wie sie ihre Waffen verwenden und welche Wirkung sie haben“, fuhr der Tierarzt fort.

„Ich werde Ihnen mein Gutachten bis Anfang nächster Woche zukommen lassen.“

Der Arzt verabschiedete sich und die Gruppe löste sich auf. Nun war Naipoki wieder alleine. Baba kam mehrmals täglich zu ihr, um sie zu trösten. Sie konnte nicht verstehen, warum sie nicht mehr zu Dada und ihren Freunden durfte. Sie hörte die Rufe, sie wollte mit ihnen spielen, doch sie war eingesperrt hinter den mächtigen Gitterstäben ihrer Zelle. Mit jedem Tag, der verging, wurde es schlimmer. Sie wollte nicht mehr fressen. Sie stand nur in ihrer Box und bewegte den Kopf monoton von einer Richtung zur anderen. Sosehr Baba auch versuchte, sie mit ihrer Lieblingsspeise zu locken, es blieb erfolglos.
Am siebenten Tag traf der Doktor, begleitet von Polizisten, im Camp ein.

„Hallo Baba, ich habe leider schlechte Nachrichten, wir müssen Naipoki einschläfern. Sie ist eine Gefahr für alle.“

„Das ist doch verrückt. Naipoki ist ein wilder Elefant und jeder, der sich ihr nähert, ist selber schuld“, schrie er den Doktor an.

„Sie werden meinen Elefanten nicht töten, das lass ich nicht zu. Sie werden ihn nicht töten, verstanden“, Tränen liefen über seine Wangen. Der Doktor überreichte Baba eine Mappe mit den Dokumenten.

„Ich werde ihr morgen früh eine letale Injektion verabreichen, sie wird nichts mitbekommen“, versuchte er zu beruhigen.
Baba setzte sich auf die Gitterstäbe in Naipokis Box. Langsam näherte sich Naipoki und schnüffelte vorsichtig an seinen Füßen. Ihr Rüssel glitt zärtlich nach oben bis er, am Kopf angekommen, Babas Tränen fühlte. Naipoki merkte, dass Baba traurig war. Sie wusste nur nicht warum. Sie hatte keine Ahnung, was die gesprochenen Worte bedeuteten.

„Die wollen dich umbringen, Naipoki.“

Er streichelte Ihren Rüssel.

„Die sind verrückt, die wollen dich einfach umbringen“, wiederholte er ungläubig.

„Warum hast du das getan? Ich war immer für dich da. Ich hab mich um dich gekümmert, als du halb tot gefunden und zu uns gebracht wurdest. Ich hab dich gefüttert, gepflegt, wenn du krank warst, und du? Als dank dafür, trampelst du Abdul tot.“

Naipoki lehnte ihren Kopf an seine Schulter und umarmte seinen Nacken mit ihrem Rüssel.

„Ach hör auf, jetzt ist es zu spät. Jetzt kann ich dir nicht mehr helfen“, schluchzte Baba.

Naipoki legte immer wieder ihren Kopf an Babas Brust. Sie wollte ihn trösten, so wie sie getröstet wurde. Inzwischen wurde es finster. Die anderen Elefanten waren schon längst in ihren Boxen und im Camp war Ruhe eingekehrt.

„Ich werde es nicht zulassen.“

Baba stand auf, streichelte Naipoki über die Stirn und ging zur Tür hinaus. Kurz vor Morgengrauen hörte Naipoki Geräusche am Hof. Die Türe öffnete sich und Baba stand vor ihr. Hinter ihm wartete der Elefantentransporter mit offener Ladeklappe. Er ging zur Box, öffnete das Gatter und gab Naipoki einen Klaps.

„Komm Mädchen, wir gehen.“

Gemächlich schritt Naipoki die Rampe hinauf. Baba schloss die Türen, schwang sich ins Führerhaus und fuhr los, weit raus ins Land.
Es war noch dunkel. Nur ein schmaler Streifen am Horizont ließ erkennen, dass die Nacht zu Ende ging. Sie fuhren über staubige Pisten, quer durch die Steppe, viele Kilometer hinaus in die Wildnis. An einem, von Büschen durchzogenen Platz, unweit von der Stelle, an der Naipoki gefunden wurde, hielten sie an. Er öffnete die Laderampe und Naipoki stieg aus dem Truck. Sie hob ihren Rüssel und konnte sofort erkennen, wo sie sich befanden. All die Gerüche waren fest in ihrer Erinnerung verankert. Vorsichtig und unsicher schritt sie der Stelle entgegen, an der sie vor einigen Jahren ihre Mutter verlor. Erinnerungen wurden wach. An Mara, ihre Freunde und an Noah. Es war Trauer und Freude zugleich, die sie empfand, als sie sich weiter und weiter von Baba entfernte. Der riesige Schädel lag immer noch, ausgeblichen von der Sonne, neben der Akazie. Zärtlich tastete sie ihn ab. Naipoki war nun nicht mehr auf die Hilfe von Baba angewiesen. Sie konnte alleine ihr Futter von den Bäumen holen und sogar Wasserquellen aufspüren hatte sie gelernt. Viele Fragen, die sich Baba nun stellte. Wird sie es schaffen, alleine da draußen in der Wildnis? Wird sie genug Futter finden? Wie werden andere Elefanten reagieren, wenn sie Naipoki begegnen. Sie war nie Gefahren ausgesetzt, sie ist im Schutz der Anlage aufgewachsen. Er war sehr traurig darüber, dass Naipoki ihn verlassen musste. Aber er hatte es ihr versprochen. Er würde es nicht zulassen. *Besser so. Sollen sie Naipoki doch suchen, ich werde sie nicht ausliefern und das Jagen von Elefanten ist in Kenia ohnehin verboten.*
Den ganzen Tag wich sie nicht von Babas Seite. Er griff nach Stöcken und warf sie nach Naipoki.

„Geh, Mädchen, geh doch. Geh fort“, rief er. Doch sie konnte nicht verstehen, was plötzlich los war. Sie ging ein paar Schritte, drehte sich um und kam wieder zurück.

„Verdammt, du sollst gehen, hau ab“, schrie Baba aus voller Kehle.

Naipoki bewegte sich nicht. Als es finster wurde, konnte er das Knacken der Äste hören. Naipoki war immer noch in der Nähe. Sie wanderte umher, entfernte sich aber nicht allzu weit. Auch am nächsten Morgen streifte Naipoki immer nur dieselbe Gegend ab. Bald würde sie kein Futter mehr finden, die Blätter waren alle weg. Bald müsste sie aufbrechen, hinaus in die Steppe. Baba beschloss zurück zu fahren. Er konnte nicht länger bleiben. Er wurde sicher schon gesucht. Vielleicht war es auch besser so, vielleicht würde dann Naipoki endlich aufbrechen und diese Gegend verlassen. Ein letztes Mal sah er hin zu der Stelle, an der Naipoki stand und mit ihrem Rüssel im Sand wühlte. Ein letztes Mal sagte er „goodby“, ging zurück zum Truck und stieg ins Führerhaus. Ein Knacken im Busch. Diesmal allerdings hinter ihm. Naipoki stand drüben im Schatten der Akazie. Baba stieg aus, lief hinter den Transporter und sah direkt vor sich einen riesigen Elefantenbullen. Das mächtige Haupt schüttelnd zeigte er Baba an, den Weg freizumachen. Einer seiner Stoßzähne war abgebrochen. Langsam, Schritt für Schritt ging Baba zurück zum Führerhaus, stieg in den Truck und fuhr einige Meter zurück. Gemächlich schritt der Bulle weiter in Richtung Akazie, unter der Naipoki stand und den Schädel ihrer Mutter bewachte. Kurz davor hielt er an. Vorsichtig betasteten sich die beiden Rüssel und streichelten sich gegenseitig. Es war Noah. Nach einer Weile drehte er sich um. Tiefes Knurren war zu hören. Er setzte sich in Bewegung, knurrte erneut und Naipoki folgte ihm. Zurück zu ihrer Herde.

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Lucia

14. Mai 2014

Freetown – Sierra Leone

Eine Hand packte mich von hinten an der Schulter.
„Achthundert Euro, du musst mir achthundert Euro bezahlen.“
Die schwarze, schweißüberzogene Haut glänzte in der Mittagssonne. Mit zugespitztem Mund und starrem Blick versuchte er seiner Forderung noch mehr Nachdruck zu verleihen.
„Ich werde dir gar nichts bezahlen, verstanden? Gar nichts!“
Genervt drückte ich seine Hand von meiner Schulter. Mrs. Ann, mein Passagier, hatte mich davor gewarnt. Sie kannte sich in dieser Gegend gut aus und war schon sehr oft in Sierra Leone gewesen. Korruption wohin auch man sah.

Er ließ nicht locker, folgte mir auf jeden Schritt und murmelte immer wieder „Captain, Captain, achthundert Euro, sonst kann ich euch nicht rüberbringen.“
Die Gepäcklader waren gerade damit beschäftigt, alle Koffer und Kisten auf Pickups zu verladen, als mitten aus dem Gewirr Mrs. Ann hervorsprang.
„Was willst du? Geld? Schämt ihr euch nicht, jetzt kennt ihr mich schon seit so vielen Jahren und versucht es immer wieder“ schrie sie den kleinen, rundgesichtigen Afrikaner an.
„Es ist alles bezahlt. Im Voraus, wie von euch verlangt! Ihr bekommt keinen Cent mehr. Ich investiere Millionen in dieses Land und ihr versucht mich ständig zu betrügen, schämt ihr euch denn gar nicht?“ Drohend hob sie ihre Hand, als wollte sie ihm jeden Moment eine Ohrfeige geben.
Es war unglaublich, mit welcher Energie diese 1,65 m große Frau mit ihren fast 78 Jahren auftrat. Sie hatte alles und jeden dermaßen unter Kontrolle, dass selbst ich stillstand und mich ihrer Führung unterordnete.
„Geh zum Hafen und organisiere ein Boot“ befahl sie in einem Ton, als würde sie einen kleinen Jungen zurechtweisen. Ohne zu zögern lief Bamka in Richtung Bootsanlegestelle.

Als alles im Boot verstaut war, stellte sich Mrs. Ann auf ein kleines Holzpodest. In einer Hand hielt sie ein Bündel Banknoten, mit der anderen wehrte sie unentwegt alle Hände ab, die sich ihr entgegenstreckten.
„Nein, nein, nein, so geht das nicht. Einer nach dem anderen. In einer Reihe aufstellen und jeder bekommt etwas.“
Es wurde geschubst und gerempelt, jeder wollte der erste sein, bis endlich alle in einer Reihe standen. Mrs. Ann begann das Geld zu verteilen. Ein Schein für jeden. Ein besonders Schlauer lief, nachdem er seinen Geldschein erhalten hatte, in einem großen Bogen hinter Mrs. Ann vorbei, um sich gleich danach wieder hinten anzustellen.
„Du warst doch schon hier. Du hast doch gerade etwas bekommen, weg weg“ winkte sie mit ihrer Hand und konnte sich dabei das Lachen nicht Verhalten.
Nach unserer Überfahrt vom Flughafen zur Stadt über ein völlig vermülltes Meer, ließ ich mich mit meiner Crew zum Hotel fahren. Auf lehmigen Pisten, übersät von Schlaglöchern, quälte sich unser Range Rover den steilen Hügel hinauf zum Stadtzentrum. Das Klimpern und Klirren aus unserer Metallbox, in der das Geschirr vom Flugzeug verstaut war, ließ Schlimmes befürchten.
„Ich glaube das Abwaschen … hat sich … soeben erübrigt“ stammelte ich, während ich im Wagen von ein einer Seite zur anderen fiel. Ich versuchte mich mit Händen und Füßen abzustützen, um nicht durch den ganzen Wagen geschleudert zu werden. Unser Fahrer schien sich mehr am Lenkrad festzuhalten, als aktiv den Wagen damit zu steuern. Dazu gab er pausenlos Erklärungen ab.
„Wir haben hier so viele Moskitos, dass es kein Europäer lange aushält. Sogar unsere Kolonialmacht, die Briten, sind von alleine wieder abgezogen“, er kicherte.
Anja, unsere Flugbegleiterin, krallte sich mit beiden Händen am Sitz fest und brach somit ihren ersten Vorsatz, in diesem Land nichts anzufassen.
„Du kannst meinen Mückenspray haben. Diese Moskitos werden ohnehin erst mit Einbruch der Dunkelheit aktiv. Zu der Zeit sind wir längst im Hotel“.
Anjas Blicke, ihre weit geöffneten Augen und zusammengepresste Lippen zeigten mir allerdings, dass mein Angebot nicht zu ihrer Beruhigung beigetragen hatte.

Es war ein reges Treiben in der Stadt. Kinder liefen neben uns her, lachten und winkten uns zu. Frauen, die ihre Einkäufe am Kopf nach Hause trugen. Männer, die die Straße entlang schlenderten oder in kleinen Gruppen am Straßenrand saßen. Auf einer Baustelle mischten sie mit bloßen Händen Beton und gossen Ziegel daraus. Alles schien doch irgendwie seine Ordnung zu haben in diesem scheinbarem Chaos. Nur wir passten hier nicht her, in unseren blitze blanken Uniformen und dem Ungetüm von Range Rover, der sich wie ein Monster von einem fremden Stern durch die Straßen schlängelte.

Ein chinesisches Hotel in Sierra Leone war so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte. Rote Lampions hingen von der Decke und ein paar afrikanische Holzfiguren schmückten die Empfangshalle. An der Wand ein großer Getränkekühlschrank, dessen Brummen und Scheppern zumindest die Hoffnung auf ein gekühltes Bier wieder aufleben ließ. Ein feucht modriger Geruch zog sich durch meine Nase. Ich war genervt. Es war jedes Mal das Gleiche. Nach einer durchgeflogenen Nacht schalte ich auf ‚Notbetrieb‘. Ich reagiere kaum mehr auf äußere Einflüsse und lasse alle Prozeduren, wie des Einchecken ins Hotel, über mich ergehen. Immer wieder kam es für einige Minuten zum Stromausfall und jedesmal stoppte das Einchecken erneut. Es war, als würde ich nicht zu dem Treiben um mich herum gehören. In einer Ecke saßen Männer, rauchten und unterhielten sich sehr angeregt. Über ihnen ein Fernsehapparat, der – von niemandem beachtet – alleine mit seiner Lautstärke um Aufmerksamkeit kämpfte. Gekrönte Häupter aus aller Herren Länder flitzten über die Bildfläche. Es dauerte wieder einmal eine Ewigkeit, bis wir unsere Zimmerschlüssel bekamen. Andrea, mein First Officer, beantwortete brav alle Fragen des Rezeptionisten und hielt jeden Stress von mir fern. Sie war schließlich auch für alle administrativen Angelegenheiten wie Rechnungen bezahlen oder Belege verwalten zuständig. Ich stand am Pult, die Hand ausgestreckt, um meinen Schlüssel entgegenzunehmen, während Anja vergeblich versuchte, ihr Handy mit dem Internet zu verbinden. Sie sah einfach süß aus, mit ihren hohen Stöckelschuhen, langen Fingernägeln und immer hervorragend gestylten langen schwarzen Haaren. Nur leider völlig unpassend für diesen Teil der Welt. Endlich, ein Schlüssel mit schwerem metallenem Anhänger, auf dem die Zimmernummer 312 vermerkt war.
„Wir sehen uns. Vielleicht auch erst morgen, ich bin total müde und werde erst mal schlafen.“
Der Weg führte aus dem Gebäude einen Holzsteg entlang durch einen tropischen Garten. Wunderbarer Duft löste endlich diesen modrigen Gestank der Hotelhalle ab. Überall von Flechten überzogene Bäume und exotische Blüten in all erdenklichen Farben. Dieses feuchtwarme Klima war ein Paradies für Pflanzen und Tiere. Letztere konnte ich sogar in meinem Zimmer wiederfinden, in das ich, die Türe war schon offen, mehr stolperte als lief. Ich war völlig übermüdet und wollte nur noch schlafen. Vorhang zu, raus aus der Uniform und rein ins Bett. Das Aufschlagen auf der Matratze und Einschlafen mussten zum selben Zeitpunkt stattgefunden haben. Ich fiel in einen langen und tiefen Schlaf.

Lautes Hämmern aus einem der Zimmer von nebenan schreckte mich aus meinen Träumen. Sonnenstrahlen drangen vereinzelt durch den geschlossenen Vorhang. Ich hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Wo bin ich? schoss mir durch den Kopf. Mein Körper war schweißgebadet. Ein karg ausgestatteter Raum. Mein Koffer, an dem sich gerade mühsam eine Schabe entlang kämpfte, stand neben mir. Modriger Gestank. Das Chinesen Hotel, dämmerte es mir. Im Hintergrund die Schreie der Stummelaffen. Das Kreischen der Vögel wurde immer lauter. Es war brütend heiß. Die Klimaanlage brummte vor sich hin, ohne auch nur ein bisschen Kälte zu erzeugen. Es war zehn Uhr Vormittag, ich musste raus zum Frühstück. Schnell auf, Zähne putzen und … nein, nicht mit diesem Wasser. Es stank ekelhaft nach Verfaultem und Vermodertem. Eine Toilette gab es zwar im Zimmer, allerdings ohne Spülung. Den Spülkasten dürfte jemand abmontiert und mitgenommen haben. Also kurz die Zähne mit Mineralwasser geputzt, in die Dusche gepinkelt und raus aus der Bude. Beim Versuch, die Zimmertüre zu öffnen, prallte ich mit vollem Schwung dagegen. Abgeschlossen? Hatte ich echt gestern abgeschlossen? Wo ist nur der Schlüssel? Ah, da drüben auf dem Bett. Langer großer Anhänger mit der Aufschrift 312. Irgendwie passte das Ding nicht. Das kann doch jetzt nicht sein, ich kann hier nicht mehr raus. Mit beiden Fäusten hämmerte ich gegen die Türe, wartete auf eine Reaktion von außen und hämmerte weiter. Vergebens, keiner da, nur das laute Brüllen der Affen. Durch den Türspion konnte ich den Weg erkennen, der mich am Vortag von der Hotellobby zu meinem Zimmer geführt hatte. So oft ich es auch versuchte, der Schlüssel passte nicht rein ins Loch. Peinlich dachte ich mir. Ich muss Anja um Hilfe bitten. Sie kann jemanden vom Hotel schicken, um mich hier raus zu holen“.
„Hallo Anja, irgendwie komm ich nicht mehr aus meinem Zimmer, ich bin eingesperrt. Könntest du jemand holen der mich befreit?“ Tippte ich aufgeregt in mein Telefon.
Ein „Hahahah ich komme gleich“ folgte prompt.
Durch den Spion konnte ich beobachten, was sich vor meiner Türe abspielte. Nach wenigen Minuten sah ich Anja den Weg entlang kommen. Das ging aber schnell. Ich wartete kurz und klopfte abermals an die Türe. Will die mich verarschen? Ich hämmerte mit voller Kraft gegen die Türe. Vergebens, niemand kam.
„Manfred wo bist du?“
war auf dem Display zu lesen.
„Verdammt, in meinem Zimmer, aber wo bist du???“
„Ich stehe vor deinem Zimmer, wir haben es geöffnet aber da ist niemand drinnen“.
Mir lief es kalt über den Rücken. Wo war ich nur? Was läuft hier ab?
„Anja, ich hab dich gesehen, als du den Weg durch den Garten entlang gegangen bist. Geh zurück und lauf den selben Weg noch einmal. Ich mache Lärm sowie du an meiner Türe vorbeikommst.“
Meine Finger zitterten beim Tippen. Immer wieder musste ich von vorne beginnen, um die von meinem iPhone vorgeschlagenen, allerdings völlig unpassenden Wörter auszubessern.
„ok :-)“.
Und da war sie. Gemütlich schlenderte sie den Weg entlang, als würde sie die Szene für einen Film ein zweites Mal spielen. Ich trommelte wie wild mit beiden Fäusten gegen die Türe.
„Anja, Anja hier bin ich.“
Ich rief aus voller Kehle.
„Manfred, was machst du hier? Das ist doch nicht dein Zimmer! Warte, ich hole Hilfe.“
Wenige Minuten später stand Anja mit einem passenden Schlüssel vor meiner Türe und sperrte auf.
„Da schau, 312, das ist meine Zimmernummer“ ich zeigte auf das Schild an meiner Türe.
„Ja aber hier steht Block C und unser Zimmer ist in Block D. Du bist einfach im falschen Block gelandet“.
Als ich letzte Nacht hinein kam, stand die Türe schon offen. Anscheinend wurde sie später, als ich bereits schlief, von jemandem abgeschlossen. Natürlich konnte hier mein Schlüssel nicht passen. Ich hatte jedenfalls Glück, dass niemand anderer in dieses Zimmer eingebucht wurde, ansonsten hätte ich mitten in der Nacht Besuch bekommen.

Am Tag darauf wurden wir von Mrs. Ann eingeladen, ihr Hospital zu besichtigen. Sie investierte seit Jahren in Afrika für wohltätige Zwecke, indem sie Spitäler und Waisenhäuser errichtete. In Freetown baute sie ein Krankenhaus für Frauen. Anja lehnte dankend ab. Ihr war die Welt da draußen doch nicht so recht geheuer und sie zog es lieber vor, den ganzen Tag am Bett sitzend im Zimmer zu verbringen. Andrea dagegen hatte keine Berührungsängste und wir machten uns auf auf den Weg.

Direkt vor unserem Hotel stand ein großer Affenbrotbaum, dessen Duft den ganzen Hügel einzunehmen schien. Ein roter, lehmiger Weg führte uns hinunter ins Stadtzentrum. Es war trocken. Es hatte heute noch nicht geregnet. Nur einige wenige Pfützen am Straßenrand zeugten von den monsunartigen Regenfällen, die jede Nacht über das Land zogen. Mädchen saßen am Straßenrand zusammen und flochten ihre Haare, während Frauen damit beschäftigt waren, die kleinen Wellblechhütten sauber zu halten. Mit gebundenen Reisigbesen kehrten sie die Hütten aus. Überall Rauchsäulen von den unzähligen Straßenküchen und in der Luft der Geruch von gegrilltem Fleisch. Es war Mittag. Schon von weitem sahen wir die blau gestrichenen Gebäude des Spitals. ‚Women medical care center‘ stand in großen roten Buchstaben auf einer weißen Tafel. Ein breites schweres Eisentor öffnete sich und bewaffnete Sicherheitskräfte musterten uns misstrauisch. Nach kurzen Erklärungen unter Mithilfe eines Angestellten des Spitals, der Englisch sprach, wurden wir in einen Raum begleitet und ersucht, auf Mrs. Ann zu warten.

„Hallo Mr. Manfred“ hallte es wenige Minuten später durch den Gang.
Mr. Ann flitzte, in Begleitung einer jungen Dame, flotten Schrittes auf uns zu.
„Schön euch hier zu sehen. Ich muss leider gleich wieder in in eine Besprechung, aber Fräulein Sabine wird euch durch das Haus führen und alles zeigen. Wir sehen uns später bei Kuchen und Kaffee“ Ann zwinkerte uns zu, drehte sich um und war auch schon wieder verschwunden.
Karg ausgestattete Zimmer, Eisenbetten auf Linoleumboden und an der Wand ein kleines Waschbecken. Auf den Betten hockten junge Frauen mit ihren Babys.
„Wir können hier nicht viel bieten außer Hygiene und einfachste medizinische Versorgung“ erzählte uns Sabine, während wir durch die Station spazierten.
„Sabine, bitte … Creme …“ ein Mädchen zeigte auf ihr Baby, das sie in einer Hand hielt. Mit nur einem Finger massierte sie vorsichtig den Bauch. Es war nicht viel größer als ihre Handfläche und wog weniger als tausend Gramm.
„Wie alt ist es?“ fragte ich etwas schüchtern.
„Acht Wochen“ sie lächelte und schob ihre Decke zur Seite.
„Und das ist Ihre Zwillingsschwester.“
Andrea stand mit offenem Mund neben mir und starrte auf das Bett. Ein weiteres, für das Alter viel zu kleines Baby, kam unter der Decke zum Vorschein.
„Wird es überleben? Ah, ich meine die Zwillinge. Werden Sie überleben?“ flüsterte Andrea zu Sabine.
„Jaja, das sieht gut aus. Die Zwillinge da drüben sind auch in solch einem Zustand zu uns gekommen und jetzt haben sie schon normales Gewicht. Shalia stand eines Morgens vor unserer Tür und fragte nach sauberen Tüchern und einer Creme. Sie darf bei uns bleiben, bis die Kleinen kräftig genug sind.“
Aus ihrer Manteltasche holte sie eine kleine weiße Tube.
„Hab ich nicht vergessen“ zwinkerte sie Shalia zu und reichte ihr die Salbe.

Im nächsten Raum war nur eines der Betten belegt. Mit einer schweren braunen Decke bis zum Hals zugedeckt, lag ein Mädchen und starrte uns an. An ihrer Seite saß Kate, eine der Krankenschwestern, und las aus einem Kinderbuch vor.
„Hallo Lucia, das sind Freunde von Mrs. Ann“ stellte uns Sabine vor und tätschelte ihre Hand.
„Sie ist zwölf und hatte einen Autounfall. Wahrscheinlich wurde sie überfahren und anschließend vor unserer Türe abgelegt.“
„War die Frau Doktor schon bei euch?“
„Gerade eben.“ Kate schlug das Buch zu und fixierte Sabine mit ernster Mine.
„Kann ich dich kurz sprechen?“
„Jaja, lass uns rüber gehen.“
Kate stand auf, streichelte Lucia über die Wange, richtete ihr abermals die Decke und folgte uns aus dem Zimmer.
„Ich glaube, wir sollten jetzt wieder gehen.“
Ich streckte meine Hand aus, um mich von Sabine und Kate zu verabschieden.
„Nein nein, auf keinen Fall. Ihr kommt mit uns rüber in den Besprechungsraum. Da gibt’s noch Kaffee und Kuchen“ zwinkerte uns Sabine zu.
Wir gingen in ein Zimmer am Ende des Ganges. Im Raum stand ein kleiner, alter Campingtisch mit einer Plastiktischdecke. Ein Strauß Blumen in der Mitte sorgte für eine freundliche Atmosphäre. In einem offenen Kasten an der Wand zischte eine alte, konservative Kaffeemaschine vor sich hin und spuckte Tropfen für Tropfen in die darunter stehende Kanne. Ein angenehmer Kaffeduft durchzog den Raum. Ich setzte mich auf einen, für Erwachsene viel zu kleinen, Sessel und beobachtete durchs Fenster, wie einige Frauen zusammen mit einer Gruppe Kinder bastelten.
„Sie arbeiten an einer Dekoration für unser Fest, das diese Woche stattfindet“ erzählte uns Sabine.
„Es wird hier fast alles selber gemacht. Obst und Gemüse wird in dem hauseigenen Garten angepflanzt. Kleider werden genäht und Möbel gezimmert. Zu kaufen gibt es wenig und für das Wenige fehlte meist das Geld.“
Sabine schloss die Türe und setzte sich zu uns, während Andrea noch immer die Bilder an der Wand bewunderte.
„Alles Zeichnungen von ehemaligen Patientinnen.“
Kate griff nach einer leeren Tasse, schenkte sich Kaffee ein und setzte sich ebenfalls.
„Es sieht nicht gut aus“ die Sorgenfalten auf ihrer Stirn wirkten beunruhigend.
Sie rührte den Kaffee und ihre Augen fixierten die Tasse.
„Lucia hat ein gebrochenes Becken und gebrochene Wirbel. Wir können hier nicht viel für sie tun. Frau Dr. Callahan ist gerade bei Ann, um sie darüber zu informieren.“
Sabine presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, als könnte, als wollte sie nicht glauben, was sie gerade hörte.
„Dr. Callahan ist Internistin. Ann konnte sie über die Britische Botschaft ausfindig machen, da sie derzeit mit ihrem Freund auf Urlaub in Sierra Leone ist. Sie hat sofort zugesagt, vorbeizuschauen und Lucia zu untersuchen.“
Die Türe ging auf und Mrs. Ann betrat, in Begleitung von Dr. Callahan, das Besprechungszimmer.
„Wir können hier nicht tatenlos zusehen“ legte Ann sofort los.
Mit einer einladenden Geste wies sie Dr. Callahan einen Sessel zu und setze sich ebenfalls an den Tisch.
„Wenn wir Lucia nicht helfen, wird sie, sofern sie das überhaupt überlebt, für immer querschnittgelähmt bleiben. Ich bringe sie nach England.“
Ihrer Entschlossenheit war nichts entgegenzusetzen.
Kate und Sabine sahen sich ungläubig an.
„Wie soll das gehen? Sie ist doch nicht mal richtig transportfähig! Wir können doch nicht einfach … “
„Nicht können, sondern wir müssen“ fiel Ann ins Wort und drehte sich zu Sabine.
„Sabine, ich möchte bitte den Britischen Botschafter sprechen. Wir brauchen Papiere für Lucia. Vielleicht könnten sie gleich …“
„Ja ja, ich werde sofort versuchen, jemanden in der Botschaft zu erreichen“ unterbrach Sabine, stand auf und verließ eilig den Raum.
„Manfred, wie können wir Lucia ins Flugzeug bringen?“
„Können wir sie bewegen? Der Druck in der Kabine sinkt ab auf circa zweitausend Höhenmeter. Vielleicht gibt es da Probleme mit der Sauerstoffversorgung.“
„Haben Sie Sauerstoff an Bord“?
fragte Dr. Callahan und legte ihren Stift neben den Notizblock, in den sie eben noch ihre Vermerke notierte.
„Ja, wir haben zwei Flaschen Sauerstoff an Bord.“
„Das dürfte reichen. Wir können Lucia nur liegend transportieren und sie muss auf jeden Fall auch im Flugzeug flach liegen“.
„Das Problem wird sein, Lucia in die Kabine zu bekommen. Die Eingangstüre ist sehr eng und gleich danach müssen wir mit ihr in einem Winkel von neunzig Grad rechts weg. Ich hatte schon öfters liegende Patienten, aber die konnten mit etwas Unterstützung selbst einsteigen. Einmal wurde der Patient sogar in eine Decke gewickelt und dann in die Kabine getragen. Dabei muss man den Patienten allerdings bewegen.“
„Das geht auf keinen Fall. Wir können Lucia nicht bewegen“ wehrte Dr. Callahan mit heftigen Handbewegungen ab.
„Und wer übernimmt die medizinische Betreuung auf dem Flug?“
Anns Blicke wanderten Richtung Dr. Callahan, die wieder mit ihren Notizen beschäftigt war. Sie blickte über ihre viel zu tief sitzende Lesebrille, nickte und presste ihre Lippen zusammen.
„Ich werde mitkommen.“
„Und ihr Freund?“
Mrs. Ann runzelte die Stirn.
„Der bleibt hier. Ich kann nicht einfach zusehen, wie Lucia leidet, obwohl ich weiß, dass ich ihr helfen kann. Lucia wird nicht überleben, wenn wir sie nicht nach England bringen. In meiner Klinik können wir sie operieren. Sie wird gesund und aller Wahrscheinlichkeit nach auch wieder gehen können.“
Dr. Callahan nahm die Brille ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und nickte, so als würde sie ihrer soeben getroffenen Entscheidung abermals zustimmen.
Es war still im Raum. Nur das Brüllen der Affen drang durch die offenen Fenster. Mit einem letzten Fauchen erklärte die Kaffeemaschine ihre Arbeit für beendet. Weit weg, Schreie von Babys.
„Manfred, sagen Sie mir, was Sie brauchen und ich besorge es“ brach Ann das Schweigen.
„Wir könnten sie auf eine Bahre binden. So festbinden, dass wir die Bahre drehen können, ohne dass sie dabei herunterfällt oder verrutscht. Wenn wir die Bahre hochstellen und drehen könnte es funktionieren.“
„Ok, Kate, kümmern Sie sich bitte um eine Bahre. Ich werde inzwischen Papiere für Lucia besorgen. Planen wir den Abflug für morgen Abend.“
Die Türe öffnete sich und Sabine streckte ihren Kopf durch den Spalt.
„Der Herr Botschafter ist am Apparat.“
Ann nickte und stand auf.
„Wir sehen uns im Später. Dann besprechen alle Details“ sagte sie zu Dr. Callahan, bevor sie den Raum verließ.

Am darauffolgenden Tag bereiteten wir im Flugzeug alles vor, um Lucia mitsamt Bare befördern zu können. Andrea kümmerte sich um die Flugplanung und alle Vorbereitungen im Cockpit, während Anja die Betten vorbereitete. Es gab keine große Auswahl an Catering in Freetown, aber Mrs. Ann gab sich ohnehin meist mit wenigen Sandwiches zufrieden. Sie nutzte den Privatjet nur als Mittel zum Zweck und nicht als Prestigeobjekt. Das Personal vom Handling war meist nicht zu finden, wenn man es brauchte. Wurden sie allerdings nicht benötigt, waren sie lästig wie die Fliegen, krochen überall hinein und standen im Weg.
„Captain, wir haben Probleme. Wir können ihre Passagiere nicht zum Flugzeug bringen“
rief jemand von draußen ins Flugzeug.
„Was soll das heißen?“ fragte ich und lief die Treppe hinunter. Vor mir stand Momka, der kleine rundgesichtige Handlingsagent.
„Wieso könnt ihr die Passagiere nicht bringen? Sind schon alle hier?“
„Ja, aber das Mädchen darf mit der Bahre nicht herein“ erklärte er mit ernster Mine.
„Seid ihr nun völlig verrückt“ schrie ich Momka an. „Bring mich sofort zu meinen Passagieren.“
In der Abflughalle sah ich schon von weitem Mrs. Ann, wie sie wütend gestikulierte. Rund um sie eine Gruppe Männer, in deren Mitte Lucia lag, festgeschnallt auf ihrer Bahre.
„Diese Idioten wollen uns nicht durchlassen mit Lucia“ schrie sie, als sie mich sah.
„Wir müssen Lucia auf eine Bahre vom Flughafen legen. Allerdings hilft uns hier niemand. Sie wollen keine kranken Personen anfassen“ fauchte Mrs Ann vor Wut.
Dr. Callahan war gerade damit beschäftigt, die andere Bahre, welche vom Flughafen zur Verfügung gestellt wurde, vorzubereiten.
„Wir versuchen es zusammen. Aber wir müssen darauf achten, dass wir sie gleichmäßig anheben. Ihr Rücken darf keinesfalls durchhängen. Sabine, halten sie ihren Kopf. Wir werden sie beim Becken hochheben und sie halten ihre Beine“ wies mich Dr. Callahan ein.
Lucia war unglaublich tapfer. Sie lag auf ihrer Bahre, starrte zur Decke und ließ alles regungslos über sich ergehen. Nur eine kleine Träne, die an ihrer Wange entlang kullerte, gab Auskunft über die Schmerzen, die sie zu ertragen hatte.

Das Einladen in den Flieger gestaltete sich nicht besonders schwierig. Angebunden und von drei Leuten festgehalten, konnten wir Lucia fast uneingeschränkt drehen. Als Lucia endlich im Flugzeug war, sah ich noch einmal kurz nach ihr. Sie lächelte, streckte mir ihre Hand entgegen und spreizte die Finger für „give me five“. Es war einfach unglaublich, wie stark dieses kleine Mädchen war. Ich ließ sie sicherheitshalber auf der Bahre festgeschnallt, für den Fall, dass es turbulent werden sollte.
„Captain, Captain“ hörte ich abermals jemanden rufen.
„Wo ist die Bahre? Das war unsere Bahre.“
„Die habe ich bereits deinem Freund da drüben gegeben“ antwortete ich ohne zu zögern und zeigte auf Männer, die in der Nähe des Abfertigungsbebäudes standen. Er drehte sich um und marschierte langsam in deren Richtung.
Das dauert. Bis der zurück ist, sind wir schon lange weg. Wir werden Lucia jedenfalls nicht noch mal umbetten. Ich war gerade dabei, die Türe zu schließen, als abermals einige Männer auf uns zukamen.
„Wir bekommen noch 60 Dollar pro Person für die Personenabfertigung und Sicherheitskontrolle“ forderte der Älteste der Gruppe.
„Ihr bekommt gar nichts! Es wurde alles bezahlt. Könnt ihr denn nie aufhören, Geld zu fordern?“
Mrs. Ann hörte unseren Streit und stellte sich sofort dazwischen. Sie begann mit einer Schimpftirade, dass sogar die groß gewachsenen Security Leute zurückwichen.
„Wenn ich keine Unterschrift von denen habe, kann ich euch nicht zum Abflug freigeben“ erklärte uns Momka.
„Wieviel wollt ihr? Hier, ist das genug?“
Sie hielt ein Bündel Geld in der Hand und übergab es dem Anführer der Gruppe.
„So, und jetzt unterschreib, los, unterschreib!“
Er nahm das Bündel Geld und setzte seine Unterschrift auf das Papier.
„Captain, Captain“ ich konnte es nicht glauben, was wollte denn der schon wieder?
„Die haben keine Bahre. Die muss noch im Flugzeug sein, wurde mir gesagt.“
„Wer sagt das?“
„Die Männer da drüben“ er zeigte auf die Gruppe, zu der ich ihn geschickt hatte.
„Nicht DIE haben die Bahre, sondern DIE dort drüben, dort hinter dem Hangar“ schrie ich ihn an und zeigte in die gegengesetzte Richtung als zuvor.
„Geh und hol sie dir, ich hab keine Bahre im Flugzeug.“
Er drehte sich um und ging. Im selben Moment schnappe Mrs. Ann nach dem Geld, das der Sicherheitsbeauftragte locker in der Hand gehalten hatte und rannte damit ins Flugzeug. Völlig überrascht und überfordert von der schnellen Aktion starrten sich alle an. Ich nutze die Gelegenheit, sprang in den Flieger und schloss die Türe.
„Ab geht’s.“

Lucia hatte den größten Teil des Fluges geschlafen. Nur einmal musste sie von Dr. Callahan für kurze Zeit mit Sauerstoff versorgt werden. Es war allerdings nur zur Vorsorge, wie mir versichert wurde. In Schottland war alles für unsere Ankunft vorbereitet und Lucia sollte noch am gleichen Tag operiert werden. Wir erreichten Glasgow um 04:00 Uhr morgens. Schon von weitem konnte ich das Blinken der Blaulichter erkennen. Polizei, Rettung und einige Fahrzeuge der Sicherheit erwarteten uns bereits am Flughafen. Die Polizisten waren sehr nett. Zur Passkontrolle kamen sie ins Flugzeug und Lucia zeigte voller Stolz ihren neu erworbenen Reisepass. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich selbst auf einem Foto sehen konnte.
„Willkommen in Schottland“ begrüßte einer der Polizisten Lucia, während er ihren Pass überprüfte.
Das Unglaubliche war vollbracht. Ein kleines Mädchen, das eben noch in einer Wellblechhütte in Afrika gelebt hatte, flog mit einem Privat-Jet nach Schottland und wurde behandelt, als wäre sie eine Prinzessin. Es war ein Strahlen in ihren Augen. Ein Strahlen, das mir für immer in Erinnerung bleiben wird. Diesmal war es ausgebildetes Personal, das Lucia vom Flugzeug in den Krankenwagen hievte. Die Türe wurde geschlossen und sie fuhren ab. Das Blinken der Blaulichter verschwand am Horizont. Es regnete.

EPILOG

Als ich Mrs. Ann einige Wochen später wieder sah, musste ich leider erfahren, dass es gar nicht gut um Lucia stand. Sie hatte keinen Autounfall, wie zuerst angenommen. Das gebrochene Becken war nicht das größte Problem, es war vielmehr der Grund, weshalb Lucias Knochen gebrochen waren. Sie hatte Knochenkrebs. Lucia lebte, wie in Afrika üblich, in einem großen Familienverband zusammen mit ihren Eltern, Großeltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten auf engstem Raum in einer einfach Wellblechhütte. Dort wurde sie solange von ihrem Onkel vergewaltigt, bis all ihre Knochen gebrochen waren und sie sich nicht mehr bewegen konnte. Anschließend wurde sie einfach weggebracht. Weggeworfen, in der Dunkelheit auf der Straße abgelegt, wo sie in den Morgenstunden vom Personal des Hospitals gefunden wurde.
Die Heilungschancen standen nicht so schlecht. Die Chance jedoch, jemals wieder nach Afrika zurückzukehren, durfte für Lucia nicht mehr bestehen.

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Benghazi

19. Februar 2011.
In meinen Ohren war nur das monotone Summen der Triebwerke. Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Erbarmungslos bohrten sich die Sonnenstrahlen durch meine geschlossenen Augenlieder. Die Enge im Cockpit ließ keine andere Sitzhaltung zu. Ich blickte genau Richtung Süden und das kurz vor Mittag. Ich war müde. Sehr müde sogar. „Auf dem Flug nach Lybien kannst du ruhig etwas schlafen“ hatte Ronny versprochen, als er mich in Thailand anrief und bat, mit ihm nach Benghazi zu fliegen. Aber die Sonne schien mir nun einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Ich musste immer wieder an die Ereignisse der letzten Nacht denken: Anruf von Ronny. Flug umbuchen. Wettrennen durch den Nachmittagsverkehr in Bangkok. In letzter Minute hinein ins Flugzeug. Um 4:00 Uhr Früh landete ich, nach zehn Stunden Flug und keiner Minute Schlaf, in Wien. Ein Taxi brachte mich zu meinem Auto. Kein Strom in der Batterie. Wortgefecht mit dem Taxifahrer, der mir erstens keine Starthilfe geben und mich zweitens nicht nach Linz fahren wollte. „Ist zu weit weg, ich bin nur ein Flughafentaxi“ sagte er. Ich war ziemlich genervt. Irgendwie konnte ich ihn dann doch überreden. Für stolze 500,- Euro und nach mehreren Kaffeepausen, denn 200 km ohne Stopp waren für den Taxifahrer nicht machbar, war ich dann endlich in Linz. Hinein ins Flugzeug und ab Richtung Süden. Diesmal allerdings im Cockpit.

Ronny erzählte mir, dass sich die Lage in Libyen zusehends verschärfte und es dort jederzeit eskalieren könnte. Zu dem Zeitpunkt befanden sich immer noch Mittarbeiter einer österreichischen Firma und deren Familien in Bengahzi. Einige davon hatten wir erst vor wenigen Wochen dorthin geflogen. Familie Schwarz mit Kindern, sogar der Hund war mit dabei. Ich erinnerte mich, wie zuversichtlich und optimistisch alle waren. Die Kinder würden die Schule für Ausländer besuchen und Frau Schwarz sich nach einem Nebenjob umsehen. Vielleicht könnte sie ja als Übersetzerin arbeiten oder englische Texte verfassen, während ihr Mann für seine Firma tätig war. Keiner hatte zu dieser Zeit daran gedacht, dass der „Arabische Frühling“ auch auf Lybien übergreifen könnte. Zu sicher schien das Regime an der Macht zu sein.

Ich kannte das Land sehr gut. Seit mehreren Jahren flogen wir regelmäßig nach Lybien. Wir wurden gemeinsam mit unseren Kunden, die guten Beziehungen zur Regierung hatten, in die Botschaft eingeladen. Wir gingen gemeinsam mit Wirtschaftsvertretern Abendessen. Ich für meinen Teil hatte gute Kontakte zur Bevölkerung. Ich kannte die Spannungen, die hier vorherrschten. Für mich war oberstes Gebot, mich neutral zu verhalten. Keine Partei zu ergreifen. Zu kompliziert, zu vielfältig waren die Hintergründe, als sie so einfach verstehen zu können.
Als Ronny mich in Thailand anrief erklärte er mir, dass immer noch einige Leute in Lybien seien und keine Möglichkeit mehr hatten, das Land zu verlassen. Dass diese Leute alle Hoffnung darauf setzten von uns abgeholt zu werden. Ab dem Zeitpunkt war für mich klar: Den Flug machen wir.

Eine Firma, die das Flugzeug für Sie ins Kriegsgebiet schickte, hatten sie schon. Nun hatten sie auch zwei Piloten, die verrückt genug waren, den Flug zu übernehmen. Länder, in denen Krieg und Anarchie vorherrschte, in denen Recht und Ordnung außer Kraft gesetzt waren, sollte man grundsätzlich nicht bereisen, wie wir vor nicht langer Zeit in der Ukraine leidvoll erfahren mussten. In solche Länder zu fliegen sollte also gut überlegt sein.

Magst einen Kaffee?“ fragte Ronny. Wir hatten keine Flugbegleiterin mitgenommen. Zu gefährlich und außerdem wollten wir jeden Sitzplatz für eventuelle zusätzliche Passagiere frei haben. Wir wussten von 6 Passagieren. Die Angaben waren allerdings sehr spärlich, um nicht zu sagen unbrauchbar, rein für die Statistik. Ronny war ebenfalls Captain auf der Citation X von Cessna. Das machte es für mich wesentlich leichter, so konnte ich beruhigt etwas schlafen. Wenn da nicht diese gnadenlose Sonne gewesen wäre. Als Ronny wieder ins Cockpit kam, natürlich mit zwei Kaffeetassen in der Hand, begannen wir, uns über unser Vorhaben zu unterhalten.

Wieso schläfst du nicht?“ fragte Ronny. „Bin noch völlig überdreht. Außerdem, die Sonne!“ Ich hielt meinen Handrücken in ihre Richtung, um wenigstens für einen kurzen Moment der gnadenlosen Strahlung zu entkommen. „Was machen wir, wenn sie uns nicht mehr weglassen?“ Ronny nippte an seinem Kaffee und begann mit den Ausführungen.“Gestern wurde schon wild geschossen. Anscheinend hunderte Tote am ersten Tag. Zwar nur in der Stadt, aber das könnte schnell auf die ganze Gegend übergreifen“. „Wir sind wirklich im letzten Moment losgeflogen. Ich glaube, mit Ziel Benghazi, dürften wir jetzt nicht mehr starten. Ist echt ein Himmelfahrtskommando. Dort bleiben möchte ich auf keinen Fall“ antwortete ich und begann an meinem x-ten Kaffee zu schlürfen. „Ahhh, heiß!!!“ Ronny grinste. „Grundsätzlich haben wir drei Möglichkeiten, das Land wieder zu verlassen“ fuhr ich fort. „Durch die Luft, was ich bevorzugen würde. Durch’s Wasser oder über Land, also durch die Wüste“.“Wasser ist nix für dich, da musst du vielleicht weit schwimmen und seekrank wirst auch immer“ gab Ronny sarkastisch zu bedenken. Wir kannten uns schon sehr lange und Ronny wusste genau, dass Wasser nicht mein Element war. Besonders, wenn auch große Fische darin schwammen! „Okay, was ist mit der Wüste?“ „Hunderte Kilometer auf Sandpisten durch trostlose, trockene Gegend? Da werde ich jetzt schon durstig! Geht auch nicht.“ Ich stellte meinen Kaffee zur Seite und griff nach den Anflugkarten, in denen die Parkflächen am Flughafen eingezeichnet waren. „Wir müssen uns nach der Landung so aufstellen, dass wir jederzeit ohne fremde Hilfe wieder starten können. Unser Trumpf ist das Flugzeug, mit dem wir schnell unvorhersehbare Aktionen setzen können. Es erwartet uns kein ausgebildetes Heer. Es sind Söldner und Milizen, die versuchen werden, die Aufständischen niederzuprügeln. Die haben keinen Flieger in ihrem Plan. Grundsätzlich sind wir denen egal. Was immer wir machen, wir müssen nur schnell sein. Wir müssen überraschen. Ronny, du bleibst im Cockpit und ich kümmere mich um alles, was draußen abgeht. Sowie einer von uns merkt, dass etwas schiefläuft, brechen wir ab. Wir stellen uns so auf, dass wir sofort wieder abheben können. Auch wenn’s am Rollweg ist. Wenn Libyer nur kurz überlegen müssen oder vor einer neuen Situation stehen, sind sie ohnehin überfordert. Stell dir mal vor, die kommen ja mit normalen Abläufen nicht zurecht. Egal, Power rein und los. Wir sind schnell, wir können überraschen und das nützen wir für uns. Wenn’s schief geht, geht’s schief, aber ich gehe nicht durch dir Wüste und fahre schon gar nicht mit einem Boot zurück„. Ronny lachte. Er kannte meinen Dickkopf und der hatte uns schon manchmal den Weg geebnet.

Wir waren nun nicht mehr weit entfernt von der libyschen Grenze. Den Sinkflug planten wir so spät wie möglich. Wir wollten keinesfalls die Zielscheibe für einen gelangweilten Libyer abgeben.

Anflug und Landung verliefen reibungslos. Wir rollten zur Abstellfläche und stellten die Triebwerke ab. Das Hilfstriebwerk ließen wir laufen. Es war viel los auf dem Flughafen. Als ich die Treppe hinunterlief, sah ich Ramadan auf uns zukommen. Er kam wie immer zu Fuß, mit seiner Aktenmappe unter dem Arm. Ramadan war unser Handlings-Manager. Ich kannte ihn schon sehr lange. Oft kam er zu uns ins Flugzeug auf ein Glas Wasser oder einen Kaffee. Er war Moslem und trank, im Gegensatz zu manch anderen dort, keinen Alkohol. Oft erzählte er uns von seiner Familie. Er hasste das Regime. „Bastarde“ nannte er sie immer wieder. Für meinen Geschmack zu oft und in einem Land wie Lybien zu laut! Aber es dürfte ihm egal gewesen sein. Mit seinen fünfzig Jahren glaubte er, sein Leben schon gelebt zu haben. Seine einzige Aufgabe sah er darin, den Weg für seine Kinder in eine bessere Zukunft zu ebnen. Ihnen ein leichteres Leben zu ermöglichen, als es ihm gegeben war. Dafür wolle er kämpfen. „Salem Aleikum“ grüßte er und führte seine rechte Hand zur Brust. Ich antwortete mit einem österreichischem „Servus„, denn Aleikum essalem, wie Araber zu antworten pflegten, würde aus meinem Mund wie das Jodeln eines Norddeutschen in Lederhosen klingen.

Ich fragte ihn, ob er Informationen über unsere Passagiere hätte. „No, no information„. Er übergab mir eine Mappe mit Papieren und wandte sich wortlos ab. Kein Lachen auf seinen Lippen, keine herzliche Begrüßung wie sonst immer. Er drehte sich einfach um und ging.

Immer wieder kamen Flugzeuge an. Immer mehr davon parkten am Vorfeld. Ich öffnete den Gepäckraum und ging eine Runde um den Flieger. Obwohl die Sonne senkrecht am Himmel stand war es angenehm kühl. Im Februar stieg die Temperatur selten über 25 Grad. Seltsame Stimmung. Irgendwie war an diesem Tag etwas anders. Durch die Cockpitscheibe sah ich Ronny wie er telefonierte. Wir hatten Satellitentelefon. Normales Telefonieren war nicht mehr möglich. Die Leitungen waren schon gekappt. Aus den Flugzeugen nebenan stiegen Leute aus. Viele Leute, lauter Männer. Schwarze Männer in langen Kutten. Aber da waren keine Busse. Normalerweise wurden die Passagiere mit Bussen abgeholt und zum Terminal gefahren. Ich konnte es nicht genau sehen, es war zu weit weg. Die nächsten Flieger, nun näher an uns. Vielleicht hundert Meter entfernt. Wieder stiegen schwarze Männer aus. Das waren keine Einheimischen. Libyer oder Nordafrikaner waren nicht so schwarz! Die Männer stellten sich tänzelnd in Blockformationen vor dem Flugzeug auf. Kommandoartige Rufe.

He Ronny, schau raus. Das sieht nicht gut aus! Die haben alle Waffen unter ihren Kutten! Das sind bewaffnete Truppen, dort schau, überall“ rief ich. „Wo sind nur unsere Passagiere??? Wir haben keine Zeit. Wir können nicht länger warten“.“ Ich versuche erneut, telefonisch jemanden in der Firma zu erreichen, vielleicht wissen die mehr“ antwortete Ronny und sprang wieder zurück ins Cockpit. Pickups fuhren nun wie wild durch die Gegend. Immer mehr Schwarze. Überall diese Blockformationen. Immer dieses Tänzeln und diese lauten Rufe. Mir trieb es den Schweiß auf die Stirn. „Niemand erreichbar. Am Funk wird nur noch Arabisch gesprochen, das stinkt gewaltig“ rief mir Ronny zu. „Okay, wir müssen weg. Das wird zu gefährlich, du weißt, die Wüste.“ „Nein, das Wasser!“ antwortete Ronny, grinste und fühlte sich sicher genau so beschissen wie ich.

Ich glaube, da bewegt sich etwas. Da fährt ein Bus vom Terminal weg. Vielleicht sind das unsere Leute?“ Mit hohem Tempo raste ein Minivan über den Apron direkt auf uns zu. „Wenn nicht sieht‘s schlecht aus.“ Ich lief nach hinten, schloss den Gepäckraum und stellte mich gleich wieder zur Eingangsstiege. Sollte da etwas faul sein, musste ich schnell wieder im Flugzeug sein. Tür zu und ab, dachte ich mir. Mit hoher Geschwindigkeit und in einem langen Bogen fuhr der Van direkt vors Flugzeug. Ich sprang gerade auf die Stiege, als ich Ramadan erkennen konnte. Er bremste ab, sprang aus dem Auto und riss die Seitentüre auf. „Go go go, hurry up“ schrie er und winkte mit seinem Arm ganz energisch Richtung Flugzeug. Wie viele waren denn das? Wir hatten Platz für 10 Passagiere. Ja, ohne Flugbegleiterin, und wenn jemand auf der Toilette sitzen wollte für 11. Zwei – vier – sechs – acht – zehn – zwölf – vierzehn – sechzehn – siebzehn!!!! „Rein mit euch, rein und zurück. Ganz zurück. Setzt euch auf den Boden, bleibt einfach im Gang sitzen“ rief ich. Ältere sowie jüngere Leute, Kinder und die Familie Schwarz, die wir vor einigen Wochen hierher gebracht hatten. Diesmal allerdings ohne Hund.  Sie liefen alle als wäre Feuer ausgebrochen.

Draußen vor der Türe stand Ramadan. Mit einem Lächeln auf den Lippen verabschiedete er sich. Seine sonnengegerbte Haut, seine tiefen Falten, die wie Furchen sein Gesicht durchzogen, ließen ihn noch viel älter erscheinen. Noch einmal ging ich hinaus, um mich von ihm zu verabschieden. „Wie wird das weitergehen?“ fragte ich ihn. „Es ist unser Kampf. Die Zeit ist gekommen, wir müssen kämpfen. Alles oder nichts. Wir haben keine andere Wahl.“ Ich drückte seine Hand und sah in seine Augen. „Danke für alles und viel Glück!“ Ich fühlte seine Angst. Wir waren umgeben von hunderten bewaffneten Söldnern, die in Kürze alles niedermetzeln würden. Sie würden ihn erschießen. Er war ein toter Mann.

Mit großen Sprüngen hechtete ich die Stiege hinauf und schloss die Türe. „Nichts wie weg“ rief ich Ronny zu. „Jetzt habe ich auf die hundert Dollar vergessen, die ich für Ramadan vorbereitet hatte“ bemerkte er ganz verlegen. „Die wird er nicht mehr brauchen“ antwortete ich, während ich den Startknopf drückte und das erste Triebwerk hochspoolte. Es war Totenstille in der Kabine. Als ob niemand hinten wäre. Tatsächlich konnte ich nicht einmal auf dem Gang zur Toilette gehen, so überfüllt war das Flugzeug. Überall saßen oder hockten Leute.

Kurs Nord und volle Speed. Mit jedem Kilometer, den wir uns von der libyschen Küste entfernten, fiel Last von meinen Schultern.

– Geschafft –

Ein Vater von zwei Kindern erzählte uns: „Letzte Nacht sind Menschen die Straße entlang marschiert. Es waren Demonstranten. Sie wurden einfach niedergeschossen. Mit Salven aus Maschinengewehren wurde in die Menschenmenge gefeuert. Für heute ist noch Schlimmeres angekündigt. Überall liegen Leichen. Es waren hunderte Tote auf den Straßen. Morgen werden es tausende sein. Sie hätten uns umgebracht, würden wir noch dort sein. Sie hätten uns alle erschossen. Wir mussten Straßensperren passieren. Immer die Unsicherheit, ob sie uns weiterlassen oder nicht. Das hat uns so lange aufgehalten.“ Die Kinder waren geschockt. Still saßen sie auf ihren Plätzen und starrten vor sich hin. Die Männer im hinteren Teil der Kabine leerten in kürzester Zeit eine Flasche Wodka. Sie versuchten ihre Erlebnisse wegzuspülen. Die zuvor so verkrampften Gesichter wirkten nun etwas entspannter. Dankbarkeit strahlte aus ihren Augen.

Wir landeten in Istanbul. Der Handling-Agent staunte nicht schlecht, als er die vielen Leute aussteigen sah. „Wie viele Sitze hat der Flieger?“ fragte er. „Sehr viele“ antwortete ich, mit einem Ausdruck im Gesicht, der keine weiteren Fragen zuließ.

Mehr als ein Jahr nach diesem Ereignis, im März 2012, flog ich wieder nach Benghazi. Das Regime war inzwischen gestürzt. Überall standen Pickups mit bewaffneten Männern. Ich hatte kein gutes Gefühl. Wer würde uns wohl empfangen? Gab es all die Leute von früher noch? Würden sie uns freundlich gesinnt sein? Würden sie sich erinnern, dass wir früher oft Mitglieder der damaligen Regierung geflogen hatten? Was war wohl aus Ramadan und seiner Familie geworden?
Als wir am Vorfeld ankamen und die Türe öffneten, traute ich meinen Augen nicht! Ramadan stand vor mir. Wie in alten Zeiten. Mit einem freundlichen Lächeln und einigen Falten mehr im Gesicht empfing er uns. Wir fielen uns in die Arme. Er erzählte mir, dass – nachdem wir damals gestartet waren – die Söldner begannen alle niederzuschießen. „Ihr seid buchstäblich in der letzten Minute abgeflogen“ erklärte er uns. „Es war ein Gemetzel sondergleichen. Unzählige Tote und der Flughafen wurde bombardiert. Kurz vor dem Einmarsch der Truppen, die vor der Stadt standen, sind damals die Flugzeuge der Franzosen gekommen. Das war die Rettung. Sie haben den Konvoi beschossen und so ihren Vormarsch gestoppt.“ Ihm und seiner Familie ging es gut und er war sehr zuversichtlich, dass nun alles besser werden würde!

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Koi

Es war ein heißer Sommertag. Ich saß in meinem Garten, als mein Telefon läutete. Am Apparat war Ralf, der Dispatcher unserer Firma. „Hallo Manfred, können wir Fische nach Korsika fliegen?“.“Fische? Welche Fische?“ fragte ich.“Na Fische halt, mehr weiß ich auch nicht. Die werden anscheinend in einer Box oder einem Karton angeliefert„. „Mir soll’s recht sein“ antwortete ich sichtlich verwundert.

Wir fliegen also Fische nach Korsika, dachte ich mir. Warum auch nicht. Eine Woche zuvor bin ich mit einer Putzfrau samt Putzkübel nach Palma geflogen. Ich habe Kinder von Palermo nach Edinburgh zum Golfspielen gebracht und einen Koffer mit Schmutzwäsche von Griechenland abgeholt. Ich bin auch schon mit einer Katze nach Nizza in die Katzen-Klinik geflogen. Wieso also nicht Fische nach Korsika bringen.

Am Flughafen angekommen, warteten schon zwei Herren auf mich. „Guten Tag, mein Name ist Bodingbauer. Ich bin von der Tierhandlung, die die Fische liefert. Herr Zeillinger“ er zeigte mit der Hand auf seinen Kollegen „Herr Zeillinger ist Veterinär und begleitet uns nach Korsika“. „Was sind das für Fische?“ fragte ich. „Das sind Koi, japanische Koi. Wir haben sie in Schachteln verpackt und Herr Zeillinger wird Ihnen die Details erklären„.
Herr Zeillinger stellte zwei Koffer, die er bisher in seinen Händen gehalten hatte, vor sich auf den Boden und begann mit den Ausführungen.“Also, die Koi befinden sich in Plastikbehältern mit Wasser. Das Wasser ist mit Sauerstoff angereichert und hat derzeit eine Temperatur von ca. 25 Grad. Wir müssen darauf achten, dass die Temperatur möglichst gleich bleibt. Ausserdem sollten Erschütterungen vermieden werden“. „Gibt es diese Fische nicht auch auf Korsika?“ fragte ich. „Ich weiß nicht“ antwortete Herr Bodingbauer mit breitem Grinsen im Gesicht. „Diese sind jedenfalls etwas Besonderes. Da ist ein völlig Weißer mit roten Tupfen dabei“ fuhr er fort. „Sie können direkt zum Flugzeug fahren. Ich werde Ihnen helfen, die Kisten in der Kabine zu verstauen“ erklärte ich den Herren. Inzwischen hatte Herr Zeillinger seine Koffer geöffnet und kramte eines unter vielen Messgeräten hervor. „Wir müssen einen geeigenten Platz finden, wo wir die Fische in der Zwischenzeit hinstellen können“ erklärte er und zielte mit seinem Gerät auf Wände und Boden in unserer Umgebung. „Das ist ein Infrarot-Thermometer“ erklärte er ganz stolz. „Da, ja da ist es gut. Hier ist es kühl genug, hier werden wir die Kartons hinstellen“.

Ein Aufwand ist das, dachte ich mir und ging zum Flugzeug, um alles weitere vorzubereiten. Meinem Kollegen gab ich eine kurze Einweisung bezüglich der Ladung und schon konnte es losgehen. Während Herr Zeilinger schier rastlos die Umgebungstemperatur maß, genoss Herr Bodingbauer Brötchen, Champagner und den wunderbaren Ausblick über die Alpen.

Auf Korsika wurden wir schon erwartet. Zwei Range Rover kamen direkt zum Flugzeug. Wir verluden unter besonderer Vorsicht die Kartons. Herr Zeillinger überprüfte ständig die Umgebungstemperatur. „Ihr könnt gerne mit uns kommen. Es wird den ganzen Tag dauern, bis wir fertig sind“ bot uns einer der beiden Chauffeure an. Wir bedankten uns und stiegen in den Jeep.

Nach einer halben Stunde Fahrt über holprige Straßen und Wege erreichten wir das Ziel. Eine Villa auf einem großen Hügel, im Kolonialstil gebaut. Wir fuhren durch ein Tor, die lange Zufahrtsstraße entlang, den Hügel hinauf. Links und rechts von uns Olivenbäume. „Sieht aus wie eine Olivenplantage“ sagte ich zu meinem Kollegen.

Das Personal des Hauses empfing uns freundlich und half beim Entladen der Kisten. Wieder sprang der Veterinär ganz aufgeregt hin und her, um den optimalen Standort für die Fische zu ermitteln. „Wir brauchen noch etwa eine Stunde. Wir müssen die Temperatur der Behälter mit den Fischen an die des Teiches anpassen. Ausserdem möchte ich vorher noch Wasserproben entnehmen“. „Wo ist der Teich?“ fragte ich ganz naiv. „Ja hier“ und er zeigte auf ein riesiges Bassein mit glasklarem Wasser und Springbrunnen in der Mitte. Komisch, dachte ich. Bei mir zuhause kämpfe ich immer mit Algen in meinem Teich und hier? Klar wie Trinkwasser und das in Korsika, wo die Sonne von früh bis spät auf’s Wasser scheint. „Das ist aber kein Teich, sieht eher wie ein Swimmingpool aus. Da ist sicher Chemie drinnen“ gab ich zu bedenken. „Nein nein, hier sind sehr gute Filteranlagen installiert. Das ist sauberstes Wasser“ antwortete Herr Zeillinger.

Der Herr des Hauses, ein sportlicher Mann mittleren Alters, begrüßte uns. „Fühlt euch wie Zuhause. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Terrasse mit Pool. Eine Bar findet ihr auch dort, bedient euch und genießt den Aufenthalt. Ihr könnt gerne schwimmen gehen oder Euch in die Sonne legen„. Er begleitete uns durch das Haus und erzählte von den enormen Restaurierungsarbeiten die er durchführen ließ. Von der Terrasse aus konnten wir den ganzen Hügel und das umliegende Land überblicken. Olivenbäume soweit das Auge reichte. „Die habe ich alle von Griechenland anliefern lassen. Sind 1000 Stück und alles alte Bäume„. Sie waren sein ganzer Stolz. Ich rechnete mir inzwischen aus, wieviele Lastwagen er dazu benötigt hatte. Vielleicht drei Bäume auf einem LKW? Oder fünf? Egal, einfach verrückt viel!

Wir verbrachten die Wartezeit am Pool. Es wirkte, als ob er eine Verlängerung zum Meer hinaus wäre. Als ob man direkt hinaus schwimmen könnte. In Richtung Haus sah es aus, als ob der Pool hindurchfließen würde. Oder ins Haus? Was weiß ich, jedenfalls beindruckend, dachte ich. Wir ließen uns Kaffee servieren und genossen den wunderbaren Ausblick.

Es mussten inzwischen einige Stunden vergangen sein, als ich aufgeregte Stimmen im Haus vernahm. Links von mir sah ich zwei Männer den Hügel hinunter laufen. Kurz danach zwei Mädchen. „Komisch, irgendetwas stimmt hier nicht“ sagte ich zu meinem Kollegen. Kaum ausgesprochen, lief das Hausmädchen auf die Terrasse. „Die Fische, die Fische“ rief sie und zeigte auf die Männer unterhalb des Hügels. „Was ist mit den Fischen?“ fragte ich. „Zuerst sind sie noch so schön geschwommen, dann plötzlich hat sich einer nach dem anderen umgedreht. Bauch oben. Der Nachbar unterhalb hat einen Teich und jetzt versuchen sie, die Fische dort hineinzugeben, sie versuchen, die Fische wieder zu beleben„. Hektisches Treiben in und um das Anwesen. „Der Pool“ sagte ich. „Der Pool geht unter dem Haus durch. Er ist verbunden mit dem Bassin auf der anderen Seite. Das ist pures Chlorwasser!“ bemerkte ich.

Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis alle wieder zurück waren. Ohne Fische natürlich. „Einen nehmen wir mit. Ich möchte ihn Zuhause untersuchen um zu klären, warum sie verendet sind“ sagte Zeillinger zu Bodingbauer. Mit einem, in Zeitungspapier gewickelten, toten Fisch in der Hand, machten wir uns auf den Weg zurück. Statt dem Thermometer trug Herr Zeillinger nun den toten Fisch mit sich herum. Mit der gleichen Hingabe.

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Mental

„Du kannst ruhig schneller laufen, wir treffen uns dann später wieder“. „Nein nein, das möchte ich nicht“. Petra läuft gemütlich, allerdings beachtlich ausdauernd. Hier am Strand, im Sand zu laufen, ist viel anstrengender als auf festem Untergrund. „Man könnte glauben, wir sind am Meer“ sagt Petra. Die Wellen, der Sandstrand und die unendliche Weite des Lake Michigan lassen kaum einen Unterschied erkennen. Wären da nicht die Frösche, die hin und wieder aus dem Wasser kommen und am Sandstrand entlang hüpfen. Am Horizont, weit entfernt, die Silhouette von Chicago. Es sind wenig Leute unterwegs. Im Oktober ist nicht mehr viel los hier. Die Sonne scheint und es ist angenehm warm.

Eine Gruppe Burschen beobachtet uns. Plötzlich läuft einer von ihnen in unsere Richtung. Knapp neben mir beginnt er, in kleinen Steppschritten zu laufen. Er hechelt, als wäre er völlig außer Atem vor lauter Anstrengung. „Was will der von uns“ fragt Petra. „Uns verarschen“ erwidere ich. Mein doch etwas lauteres Atmen dürfte ihn veranlasst haben, sich einen Spaß zu machen. Egal, nicht hinsehen, weiterlaufen, als wäre da niemand. „Der äfft dich nach, der verarscht dich“. „Lass ihn, mir egal“. Er kommt noch enger an mich heran und imitiert meine Atemgeräusche, dabei versucht er mir immer in die Augen zu sehen. Kein Lachen auf seinen Lippen. „Komischer Typ, lass ihn einfach“. Irgendwie ist das unangenehm. „Wir werden langsamer laufen, vielleicht läuft er dann einfach weiter“. „Obwohl, ich hätte Lust Gas zu geben, darf ich?“. „Aber sicher, wir sehen uns später“ antwortete Petra.

Langsam erhöhe ich das Tempo. Jetzt wechselt auch er zu einer normalen Schrittlänge. Er ist barfuß, das kostet Kraft. Er ist jung, sehr jung, vielleicht 25? Kräftig trainierter Brustkorb, muskulöser Oberkörper. Ich erhöhe das Tempo wieder etwas, langsam aber stetig, dann werde ich bald wissen, wie es um seine Kondition bestellt ist. Kein Hecheln mehr, nur ein Lächeln auf seinen Lippen. Immer den Blick auf mich gerichtet, scheinbar unberührt vom Tempo, läuft er neben mir her. Na warte, mal sehen wie lang du das durchhältst. Ich halte nun die Geschwindigkeit. Muss ihn etwas mehr nach links drängen, da ist der Sand tiefer und das kostet Kraft. Gut so, ich kann kleine Gruben hinter seine Tritten erkennen, er sinkt bei jedem Schritt ein. Der Strand scheint endlos lang zu sein. Wir laufen jetzt schon mehr als zwanzig Minuten nebeneinander her und ich kann keine Ermüdungserscheinung bei ihm erkennen. Der Bursche hat Kraft und Ausdauer. Dagegen kann ich nicht an, das macht keinen Sinn. Kräftige Beine, durchtrainierter Körper und im besten Alter. Sieht aus, als wäre das ein Spaziergang für ihn, als würde ihn das überhaupt nicht anstrengen. Wenn ich jetzt umdrehen und wieder zurücklaufe, würde er mir folgen? Das wäre ziemlich peinlich, das geht gar nicht.

Körperlich kann ich ihn nicht besiegen, da habe ich keine Chance. Aber vielleicht mental? Einen Versuch wäre es wert. Ich lasse mich mal vorsichtig etwas zurückfallen. Es ist ihm sicher schon langweilig und er möchte zurück zu seinen Freunden. Vielleicht wollte er denen auch nur etwas beweisen. Ich zeige ihm, dass ich nicht mehr kann, gebe ihm das Gefühl, dass er gewonnen hat. Er läuft jetzt circa einen Meter vor mir. Weiter links, raus in den tiefen Sand, so ist das gut. Ich darf jetzt nicht zu voreilig sein. Jede Minute, jeden weiteren Meter, den er barfuß im tiefen Sand laufen muss, kostet ihn Kraft. Er wird, sollte er beenden, sicher kurz beschleunigen um zu zeigen, dass er gewonnen hat und danach in irgendeine Richtung weglaufen. Er will sicher zu seinen Freunden zurück.

Plötzlich tiefe Gruben im Sand hinter jedem seiner Schritte. Er beschleunigt. Ich muss dranbleiben, koste es was es wolle. Wenn er beschleunigt, erwartet er, dass sich der Abstand zwischen uns vergrößert. Das darf ich nicht zulassen. Ich erhöhe mein Tempo, ich kann sein tiefes Atmen hören, er kommt also an seine Grenzen. Wir sind inzwischen unglaublich schnell, lange kann ich dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Ich weiß allerdings, im Gegensatz zu ihm, dass ich nach wenigen Metern aufhören werde. Er kann meine Kraft nicht mehr einschätzen. Er ist unsicher und wundert sich, warum der Abstand zwischen uns nicht größer wird. Für ihn fühlt es sich an, als ob er an einem Gummiband hängen würde, als ob er Ballast an sich hätte. Inzwischen ist mir egal, ob er im tiefen Sand oder am festen Boden läuft, er ist angeschlagen und das genügt. Seine Schritte werden kürzer, sein Atem schneller, meine Gelegenheit ist gekommen. Alles oder nichts, volle Kraft voraus. Ein Sprint, als wär die Ziellinie direkt vor mir, als könnte ich fliegen, als wäre ich unschlagbar. Ich bin auf gleicher Höhe. Ich sehe seinen roten Kopf. Mit einem verzerrten Lächeln auf meinen Lippen gewinne ich mehr und mehr an Boden. Das muss ihn zerstören, das macht ihn fertig. Ich werde gleich aufhören, nur noch wenige Meter. Er allerdings weiß nicht wie lange das noch geht, er hat die Kontrolle über den Lauf verloren, er gibt auf.

In einer langen Schleife drehe ich um und sehe ihn, die Arme auf die Knie gestützt und schwer atmend, am Strand stehen.

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Rechts

Marokko 2014

Ich hasse diese endlos langen Ausfahrtsstraßen. Ich hasse es auf Straßen, auf Asphalt, zu laufen, aber hier gibt es keine andere Möglichkeit. Ich werde mich weiter rechts halten. Ist nicht viel Verkehr, trotzdem, rechts ist es sicherer, sind ideale Bedingungen heute. Die Sonne steht schon tief am Himmel. Ich werde gleich versuchen, rechts abzubiegen. Vier Mal rechts und ich bin wieder zurück. Guter Speed, immer noch über 10 km/h im Schnitt. Auf beiden Seiten der Fahrbahn Wüste, ausgetrocknete Büsche und jede Menge Müll, da komm ich nicht durch. In der Ferne die Silhouette der Stadt. Steine und Büsche werfen lange Schatten auf den Wüstenboden. Es geht bergab, leicht bergab, ich kann mehr Speed machen, ich werde schneller. Die Sonne ist links von mir, ich muss also rechts abbiegen.

Nach der Sonne kann ich mich gut orientieren. Rechts eine breite Schotter-Piste, eingesäumt von einer kleinen Steinmauer. Hier laufe ich runter. Wunderbar, die Farbe der tief stehenden Sonne, der warme Wind und der Geruch des Oleanders. Hinter mir höre ich das Knattern von Mopeds. Ich kann mich nicht umdrehen, muss mich konzentrieren, der Weg ist zu uneben, zu viele Steine. Ich fühle die Salzkruste, die sich auf meiner Haut bildet, ich werde schneller. Warum überholen die mich nicht, warum fahren die nicht endlich an mir vorbei, ich kann nicht weiter nach rechts. Ich drehe mich kurz um und sehe drei junge Männer auf ihren Mopeds nebeneinander hinter mir herfahren. Sie rufen mir etwas zu, aber ich verstehe kein Französisch. Abwechselnd begeben sie sich auf gleiche Höhe. Sie lachen, gestikulieren und rufen mir zu. Es geht bergauf, ziemlich steil. Endlich, lautes Knattern neben mir, in Staub und Rauch gehüllt verschwinden sie am Horizont. Ich ringe nach Luft. Ich darf nicht anhalten, immer weiter laufen, nur nicht anhalten.

Die staubige Nebenstraße mündet wieder in eine asphaltierte am Rande der Stadt. Kinder hocken am Straßenrand, zwei Mädchen springen hoch und laufen, laut lachend, hinter mir her. Auf einem Strommast sitzende Buben, feuern mich an. Ich muss rechts abbiegen, da muss doch endlich einmal eine Straße rechts weggehen. Mit der Sonne navigieren geht wirklich toll – wenn sie scheint. Als ich weggelaufen bin, konnte ich keine Stadt sehen, da waren keine Häuser, nur diese riesig und endlos erscheinende Ausfahrtsstraße. Ich muss rechts, noch weiter rechts, bei nächster Gelegenheit werde ich rechts abbiegen. Ob sie, würde sie noch scheinen, schon rechts von mir wäre? Oder gar schon hinter mir? Ich glaube hinter mir, hinter mir ist es heller. Aus Lautsprechern ertönt der Gesang des Muezzin. Männer knien sich nieder zum Gebet. Mekka liegt im Osten, also dann … dann … verdammt, die Sonne geht im Westen unter, die Gesichter der Männer allerdings sind rechts von mir. Die Sonne sollte schon längst hinter meinem Rücken sein. Ich muss rechts, dringend rechts, ich werde abkürzen, direkt über die Steinfelder laufen, direkt in diese Richtung. Hindernisse sind kaum noch zu erkennen, es wird dunkel. Scheiße, das war Scheiße und ich bin mitten rein, weiter laufen. Ich muss wieder raus, raus auf eine Straße, raus auf einen befestigten Weg. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, es ist zu gefährlich hier im freien Gelände. Da drüben sind Scheinwerfer von Autos, ich werde direkt …. Mauer, hier geht’s nicht mehr weiter. Ich bleibe stehen, nur kurz zur Orientierung. Da links rüber, ich muss weiter laufen, darf nicht stehen bleiben. Vor mir wieder eine kleine Mauer und ein Zaun, da komme ich drüber. Endlich, zurück auf der Straße.

Es hat keinen Sinn jeder Hauseinfahrt zu folgen, ich muss auf die Hauptstraße. Ich kann es mir nicht mehr leisten, falsch abzubiegen. Wieder das Knattern der Mopeds, diesmal sausen sie gleich an mir vorbei. Es ist dunkel, völlig schwarz um mich herum. In weiter Ferne sehe ich Scheinwerfer. Die Lichter bewegen sich quer zu mir, das ist meine Straße, gleich bin ich da. Ich bin immer noch am Stadtrand, nur nicht langsamer werden. Es wird kühl, ich darf nicht auskühlen. Kann kaum sehen, wo ich hintrete. Nein, nein, das kann nicht die richtige Straße sein. Zu klein, ich darf jetzt nicht falsch abbiegen. Die Beine schmerzen, der Atem sticht. Weiter, ich muss weiter, dort in der Ferne, dort ist die Hauptstraße. Ich muss auf der Fahrbahn bleiben. Der Geruch von Öl sticht mir in die Nase. Rechts, die unendliche Weite der Wüste. Nur noch wenige Meter! Geschafft, das ist die Hauptstraße. Es geht rechts weg.

Bin ich hier richtig? Es ist zuviel Verkehr. Lastwagen brausen laut hupend an mir vorbei. Ich muss weiter rechts laufen. Runter von der Straße, runter. Ich halte mich rechts der Fahrbahn. Die Schritte werden immer schwerer, das Tempo nimmt ab. In der Ferne Lichter. Sieht aus wie Häuser, ja vielleicht das Hotel? Durchhalten, gleich hab ich es geschafft. Ich stolpere, zu uneben der Weg, ich kann kaum etwas sehen. Kalter Schweiß rinnt mir über die Stirn und das Salz brennt in meinen Augen. Ich muss zurück auf die Fahrbahn. Im Lichtkegel der Autos sind die Unebenheiten gut zu erkennen. Vor mir eine Tankstelle. Aber da war doch keine Tankstelle, ich kann mich an keine Tankstelle erinnern. Ich muss weiter, ist sicher viel weiter draußen. Straßenküchen am Rand und der Duft von Gebratenem. Der Rauch zieht an mir vorbei. Lichter, Leute, das vermittelt mir wieder Sicherheit. Mein Rhythmus wird gleichmäßiger, ruhiger, die Schritte präziser auf dieser endlosen Geraden.

Vor mir die Dunkelheit. Die letzten Lichter verschwinden hinter meinem Rücken. Autos rasen an mir vorbei, in der Ferne bellende Hunde. Das Keifen wird lauter, kommt näher. Hier gibt’s keine Zäune, hier ist alles offen. Sie sind auf der anderen Straßenseite, hoffentlich kommen diese Köter nicht herüber. Im Scheinwerferlicht ein Tier – Reifen quietschen – ein dumpfer Knall. Weiterlaufen, ja nicht stehenbleiben. Nicht umdrehen, ich muss mich auf die Straße konzentrieren. Die Beine werden schwer, jeder Schritt zur Qual. Lippen, Zunge, Mund sind ausgetrocknet. Es spannt in den Waden, nur kein Krampf, jetzt nur kein Krampf. Weit in der Ferne ein blaues Licht, ein Schild. Ich werde laufen, ich werde so lange laufen bis kein Licht mehr zu sehen ist oder bis ich am Ziel bin. Ich dachte ich mache Spaß, als ich sagte „… wenn ich bis 19:00 Uhr nicht zurück bin, dann …“. Wie spät ist es eigentlich? Wie lange bin ich schon unterwegs? Ich hab jegliches Zeitgefühl verloren. Das Schild wird größer und hinter dem Zaun sind Lichter zu erkennen. Das könnten die Nebengebäude sein, das sind Nebengebäude, gleich geht’s rechts rein durch das Tor und ich hab’s geschafft. Dann nur noch ein paar Meter bis zum Eingang.

Der Zaun endet. Ein unangenehmes Gefühl der Leere durchfährt meinen Körper. Das Atmen fällt mir schwer. Vor mir wieder diese beängstigende Dunkelheit, diese unendliche Gerade. Weiterlaufen, ich darf nicht stehen bleiben. Die Lichter verschwinden wieder hinter mir, meine Schritte werden unregelmäßig, ich stolpere. Einmal hinfallen und ich bin erledigt, komme nicht mehr auf. Meine Füße schleifen über den Asphalt. Ich muss die Knie mehr anheben, ich darf nicht nachlassen. Ich habe kein Telefon, kein Geld. Ich habe keinen Ausweis bei mir. Ich laufe in einem fremden Land und weiß nicht, wo ich bin. Nicht einmal an den Namen des Hotels kann ich mich erinnern! Es war ein Tor, ein Einfahrtstor auf der rechten Seite. Ein großes Tor. Ich wollte doch nur kurz raus, eine kleine Runde laufen. Es ist kalt, ein Stechen zieht durch meinen Rücken, ich verkrampfe. Hier draußen bin ich verloren, ich schaffe das nicht, kann nicht mehr. Meine Waden beginnen zu krampfen. Verschwommene Lichter der vorbeisausenden Autos, kalter Wind bläst mir ins Gesicht. Ich kann nicht weiter, ich bin erledigt.

Rechts vor mir ein Einfahrtstor, darüber die Leuchtschrift „Hotel Eden Andalou SPA & Resort“.

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Zoo, das Guantanamo der Tiere

Wer kennt das nicht: Ein Spaziergang durch den Zoo am Sonntagnachmittag mit der ganzen Familie. Aufgeregte Kinder, die von Käfig zu Käfig hüpfen, auf der Suche nach immer größeren und gefährlicheren Tieren. Gazellen, Zebras und Antilopen finden kaum mehr Beachtung, sobald die von Gittern umgebenen Gehege der Löwen oder Tiger in Sicht sind. Ja, und dann sind da noch die ganz Großen, die Elefanten, Nashörner oder Flusspferde. Aus sicherer Distanz, getrennt durch dicke Eisen mit vorgelagertem Wassergraben, kann ihr bedrohliches, monotones Verhalten beobachtet werden.
„Wow, denen möchte ich nicht zu nahe kommen“ denken sich manche der kleinen oder auch großen Besucher.
Ich bin ihnen nahe gekommen! Sogar sehr nahe und das hat meine Einstellung zu diesen wunderbaren Tieren grundlegend geändert.

Mvuu Lodge

Es war immer schon ein Traum von mir, Elefanten, Löwen, Zebras und Antilopen in ihrer natürlichen Umgebung zu erleben. Ich machte Safaris in Südafrika, Botswana und schließlich in Malawi, von der ich hier erzählen möchte.

Malawi ist ein touristisch noch ziemlich unaufgeschlossenes Land. Die einfache Lebensweise der Leute ist fast so beeindruckend wie die unbeschreibliche Faszination der Natur und der Tiere in diesem Land.
Wir sind von Edinburgh kommend über Nairobi nach Lilongwe, die Hauptstadt Malawis, geflogen. Von dort ging es dann weiter mit dem Auto Richtung Süden, entlang der Grenze zu Botswana.
Als wir nach 4,5 Stunden Fahrt im Camp ankamen, ging ein Gewitterregen über uns nieder. Riesige Wassertropfen ließen für einige Zeit die Geräusche der Wildnis um uns verstummen. Das Boot, das uns über den Fluss zum Camp bringen sollte, war noch nicht da und so warteten wir unter einem Strohdach auf das Ende des Regens. Immer wieder konnten wir Krokodile beobachten, wie sie vorsichtig ihren Kopf aus dem Wasser hoben um dann, kaum von uns erspäht, sofort wieder unterzutauchen. Eigentlich war ja noch Trockenzeit, doch dieses Jahr schien alles etwas anders zu sein.
Das Camp oder besser gesagt die Lodge war hervorragend. Wir wurden herzlichst empfangen und bei einem Willkommensdrink auf die Gepflogenheiten im Camp vorbereitet. Die Hütten, in denen wir übernachteten, waren ca. 600 Meter Fußweg von der Lodge entfernt. Diesen Weg – wurde uns gesagt – durften wir nach Einbruch der Dunkelheit keinesfalls alleine bestreiten, da besonders in der Nacht immer wieder Elefanten oder Nilpferde durchs Lager streiften. In jeder Hütte befand sich eine Trommel zum Alarmieren der Sicherheitskräfte, die uns in der Dunkelheit begleiten würden.

Nach unserem ersten Abendessen in der Lodge saßen wir gemütlich am Lagerfeuer und tauschten unsere Erfahrungen aus. Unser Guide Frank erzählte uns von Fischern, die in der Nacht verbotenerweise am Fluß angelten und von Krokodilen attackiert wurden. Von Elefanten, die gelegentlich durchs Lager zogen und Nilpferden, die die größte Gefahr darstellten, wenn man ihnen unverhofft auf ihren nächtlichen Streifzügen durch den Busch begegnete. Es war gerade so richtig gemütlich, als John, einer der Lodge-Mitarbeiter, die Treppen heraufgelaufen kam und Frank zuflüsterte „Sir, elephants are coming… „.
„Wir sollten besser gehen.“ sagte Frank „Es sind Elefanten in der Gegend und denen wollen wir lieber nicht begegnen.“ Jeder von uns bekam eine Lampe ausgehändigt, die in Wirklichkeit jedoch mehr dazu diente, gesehen zu werden als zu sehen. Wir beschlossen, die Lampen nicht einzuschalten, um die Augen so besser an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nachdem wir ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, hörten wir plötzlich lautes Knacken und Krachen in den Büschen. Durch Handzeichen forderte uns Frank auf stehen zu bleiben. Immer wieder hörten wir dieses Knacken als würden Äste brechen. „Elefanten“ sagte Frank kurz, während er sich langsam Schritt für Schritt zurück bewegte. Wegzulaufen wäre jetzt der größte Fehler. Wir waren mitten in eine Herde Elefanten geraten. Ich wagte kaum zu atmen, wollte mich am liebsten unsichtbar machen. Im Mondlicht konnte ich die Silhouetten einiger riesiger Gestalt erkennen. Ab da war mir klar, wir befinden uns inmitten der Wildnis. Frank versuchte mit Kieselsteinen, die er wahllos in die Bäume warf, die Elefanten von uns abzulenken. Ich konnte nur schemenhaft die Schatten der riesigen Tiere erkennen, ohne sie wirklich zu sehen, obwohl wir nur wenige Meter von ihnen entfernt waren. Elefanten bewegen sich nahezu lautlos. Mir blieb das Herz fast stehen, als ich tiefes Brummen und Knurren hörte. Eine Aufforderung Leitkuh an ihre Herde, weiterzuziehen. Ich kauerte in tiefer Hocke am Wegrand und wagte nicht mich zu bewegen. Kein Trampeln, kein Stampfen, nur das Knacken der Äste war zu hören. Immer lauter, immer schneller. Wie wild schossen die Gedanken durch meinen Kopf. „Die werden mir nichts tun, die werden mich ignorieren, Elefanten sind kluge Tiere, Elefanten sind nicht aggressiv“. Nach einigen Minuten wurde es leiser, dann still. Unheimlich still. Sie waren weg.

In dieser Nacht sind immer wieder Elefanten in unser Lager gekommen. Direkt neben meiner Hütte stehend, fraßen sie in aller Ruhe vor sich hin. Große Bullen sowie kleine Elefantenbabys. Nur ein dünnes Moskitonetz trennte uns voneinander, ich konnte sogar das Mahlen ihrer Zähne hören. Elefanten müssen 18 Stunden pro Tag fressen, um ihren Kalorienbedarf abzudecken.

Dass uns die Elefanten nicht überrannten, war einzig ihrer Gutmütigkeit zuzuschreiben. Natürlich haben uns die Tiere wahrgenommen, mehr noch als wir sie. Elefanten sind äußerst sensible und soziale Tiere, die in großen Familien leben. Niemals würden sie Menschen grundlos angreifen, im Gegensatz zu uns, die wir Tiere in Käfige sperren und unter unmöglichen Bedingungen halten.

Es war sehr beeindruckend, Elefanten in freier Wildbahn erleben zu dürfen. Nicht eingesperrt hinter Gittern wie in einem Zoo, dort langsam vor sich hinsiechend.
Für mich unverständlich ist, dass noch immer Tiere wie Elefanten, Tiger, Löwen etc. in Zoos gehalten werden. Und das in Europa, einem Kontinent, der „Tierschutz“ an oberste Stelle setzt.
Ich bin der Meinung, dass noch sehr viel Aufklärungsarbeit nötig ist, um den Menschen klar zu machen, dass die egoistische Einstellung, jedes Tier der Welt direkt vor der Haustüre beobachten zu wollen, Tierquälerei der besonderen Art bedeutet. Einen Elefanten oder Tiger, dessen normaler Lebensraum mehrere tausend Quadratkilometer umfasst, in ein Gehege von wenigen hundert Quadratmetern zu pferchen, ist ein Verbrechen.

In den folgenden Tagen beobachteten wir noch viele Elefanten. Eine ca. 50 Tiere umfassende Herde war ständig in der Nähe unseres Camps. Am Ende der Trockenzeit finden sie wenig zu fressen. Im Camp jedoch, wo jeden Tag die Bäume und Sträucher gegossen wurden, war weiterhin alles grün.
Auch Nilpferde und Krokodile kamen immer wieder bis direkt vor unsere Hütten auf der Suche nach Fressbarem.
Die so gewonnenen Eindrücke der afrikanischen Tierwelt bleiben für immer unvergesslich.

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